Die Maginot-Linie war eines der eindrucksvollsten Bollwerke, das die Militärgeschichte hervorgebracht hat. Es hatte nur zwei Nachteile. Erstens: Es funktionierte nicht, weil es zweitens nur nach Osten ausgerichtet war. Die Wehrmacht umging einfach die Maginot-Linie und griff von links an. Die französischen Soldaten hätten durch ihr eigenes Bollwerk schießen müssen, um sich zu verteidigen. Denn die Geschützöffnungen zeigten alle nur nach rechts. Der Ausgang ist bekannt: Frankreich musste sich unterwerfen und auf die Befreiung durch Briten und Amerikaner warten.
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ist das Bollwerk gegen den Sturm, den die Bundesregierung nach eigenem Bekunden erwartet. Sie framt den Sturm als „Wutwinter“. Steigende Preise, möglicher großflächiger Stromausfall, Lockdowns und reihenweise private Pleiten könnten die Auslöser für Unruhen sein. Und die Regierung – allen voran Faeser – bereitet das Publikum darauf vor, dass dieser „Wutwinter“ von rechts komme. So soll die Mitte davon abgehalten werden, sich über persönliche Not zu beschweren – und eine Niederschlagung des Protests gerechtfertigt werden.
„Wutwinter“: Wie konnte ein Land, das seinen Bürgern noch vor gut zwei Jahren versprach, alle wirtschaftlichen Folgen einer Pandemie tragen zu können, in den Zwang geraten, das Niederschlagen von Hungeraufständen vorbereiten zu müssen? Es begann mit Utopien. Linkes Denken hat schon immer die Klassiker utopischer Literatur hervorgebracht. Diese lesen sich recht flüssig, da darin die Pläne in wunderbarer Weise aufgehen wie sonst nur in einem Märchen. Sie haben nur zwei Nachteile: Sie lassen sich nicht in die Realität übertragen, aber ihre Fans versuchen es trotzdem, notfalls mit Gewalt – immer und immer wieder. Seit es Versuche gibt, linke Utopien in die Realität zu übertragen, seitdem gibt es auch den Terminus der „linken Lebenslügen“, als welche sich diese Versuche stets erweisen.
Linke Utopien bestimmen Deutschland seit 2005. Das gilt sowohl für die Politik als auch für die Medien. Um 2005 herum veränderte sich die Parteienlandschaft entscheidend: Helmut Kohl hatte in Folge der Spendenaffäre die Dominanz über die Union verloren. Den folgenden Machtkampf gewann Angela Merkel. Ihre konservativen Konkurrenten waren zu eitel wie Edmund Stoiber oder zu schwach wie Friedrich Merz. In der Opposition ließ sich Merkel durchaus noch zu den Konservativen zählen. Doch als Regierungschefin entpuppte sie sich als skrupellose Populistin, die ihre Entscheidungen strikt nach Meinungsumfragen traf.
Zeitgleich mit den beiden „Volksparteien“ änderte sich auch die Medienlandschaft. Bis 2005 waren die lokalen Tageszeitungen deren heimlicher Star. Alle schauten nach Stern, Spiegel und Süddeutsche Zeitung. Doch Renditen von 20 Prozent und mehr fuhren die Allgemeinen Zeitungen und Tagblätter ein – von Flensburg bis nach Berchtesgaden. Ihren Verlegern ging es um Profit. Politische Missionen, die auf Kosten des Gewinns liefen, waren ihnen fremd. Wenn massenweise Leser das Abo kündigten, weil Jour_nal:Ist*innen gendern wollten, dann unterließen sie das – vielmehr kamen sie erst gar nicht auf die Idee. Doch dann brach die „Cash Cow“ lokale Zeitung zusammen. Das Internet riss ihr zuerst die wichtige Einnahmequelle Kleinanzeigen weg, dann nach und nach die Leser. Der nichtakademische Bürger gab die Tageszeitung ebenfalls stückweise auf – aber damit unwissentlich auch seinen Zugriff auf die Medien. Deren Macher waren schon immer links und utopistisch. Umso weniger Rücksicht sie auf den nichtakademischen Kunden nehmen mussten, desto mehr versuchten sie nun, ihre Utopien Realität werden zu lassen.
Damit war ein unheilvoller Mix angerührt: eine Medienlandschaft, die sich von ihrem Kunden entkoppelte und linke Utopien umsetzen wollte. Eine Kanzlerin, die in dieser öffentlichen Meinung mehr Fähnchen im Wind als Regierungschefin war, getragen von einer Partei der Nachgeber wie Friedrich Merz. Eine meist in der großen Koalition gefangene SPD, bestehend aus Traumtänzern und Karrieristen. Das bedeutete einen Weg, der frei für die Grünen war. Obwohl sie 16 Jahre nicht an der Regierung waren, gaben sie die Agenda vor, die nun umgesetzt wurde: übereilter Atomausstieg, Vernachlässigung der Armee, bedingungslose Einwanderung bei vollem Zugriff auf die Sozialkassen, Vernachlässigung der Infrastruktur zugunsten von Sozialausgaben, übereilter Kohleausstieg und Einstieg in die Identitätspolitik mit Gendersternchen und Opferkult.
Das passierte zwischen dem März 2020 und dem März 2021. Im ersten März hatten sich noch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hingestellt und versprochen: Welche finanzielle Folge die Pandemie einem Bürger auch bringen werde, der Staat komme dafür auf. Im zweiten März nahm Merkel die „Osterruhe“ zurück. In dieser denkwürdigen Pressekonferenz sagte sie, dass für die Pandemiebekämpfung eben nicht jeder Preis gezahlt werden könne. Es war ein erster Realitätsschock. Ein erstes Erwachen einer verantwortlichen Person. Doch die meisten Medien übersahen das. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, von der Größe zu schwärmen, die es bedeute, die „Osterruhe“ wieder zurückzunehmen.
Dem Merkelschen Realitätsschock, wohin die „Osterruhe“ führen würde, folgten weitere. Sie taten es nach der Dramaturgie eines Katastrophenfilms: Am Anfang sind Schäden undenkbar, dann passiert einer, ein zweiter, ein dritter und am Ende gehen die Dinge so schnell kaputt, dass der Zuschauer kaum noch mitzählen kann. Merkel hatte gut daran getan, 2018 ihren Rückzug einzuleiten. Als die Einschläge kamen, war sie weg. Einem Spiegel-Journalisten vertraute sie an, sie wolle fortan nur noch Wohlfühltermine wahrnehmen. Als Pensionärin sei ihr das gegönnt, als Staatsfrau passt es zu der rückgratlosen Opportunistin, die sie war.
Seit die Ampel regiert, ist der Realitätsschock ihr ständiger Begleiter. Das basiert auf etwas, das Linke nie kommen sehen und selbst dann noch ignorieren, wenn es vor ihrer Nase passiert: Ursachen haben Wirkungen.
- Ich steige aus Atom und Kohle aus, also bin ich abhängig vom Gas.
- Ich vernachlässige meine Armee, also bin ich nicht verteidigungsfähig.
- Ich bin nicht verteidigungsfähig und abhängig vom Gas einer der größten Militärmächte, also setzt diese Militärmacht ihre Interessen vor meiner Nase mit Gewalt um.
- Ich drohe dieser Militärmacht mit Sanktionen, also drosselt sie mir die Gaslieferungen.
- Ich beschließe die Rückkehr zur Kohlekraft, also brauche ich Kohlen.
- Ich vernachlässige über Jahre mein Wasser-, Straßen- und Schienennetz, also bin ich nicht in der Lage, die benötigten Kohlen rechtzeitig zu den Kohlekraftwerken zu bringen.
- Ich verzichte über Jahre auf Zinsen und mehre die Geldmenge, also erhalte ich eine Inflation.
- Ich mache mit dem Atom- und Kohleausstieg sowie dem faktischen Gasboykott Energie zu einem seltenen Gut, also steigen die Preise für Energie rasant.
- Rasant steigende Energiepreise befeuern eine ohnehin vorhandene Inflation.
Das Überraschendste an der linken Utopie-Republik ist, dass seine politische Elite selbst von solch offensichtlichen Kausalitäten überrascht wird – und dass sie immer noch als Eliten wahrgenommen werden. Als solche wollen sie sich halten. Dieses Leben bringt Annehmlichkeiten mit sich und bedient die Eitelkeit, die Richtung vorgeben zu können. Freiwillig aufgeben wird keiner, bloß weil er mehrfach versagt hat.
Was das für uns bedeutet? Schwer zu sagen. Wer 1790 prophezeit hätte, dass Robespierre ein blutrünstiger Diktator sein wird, der einen in der Geschichte bis dato nicht gekannten Blutrausch auslösen würde – der wäre als Verleumder gebrandmarkt worden. Oder er wäre für diese Prognose ausgelacht worden – 1794 hat dann keiner mehr gelacht. Manchmal genügen vier Jahre, um ein Land so zu verändern, wie es sich keiner vorstellen kann. Schon gar kein linker Utopist.