„Deutschland? Aber wo liegt es?“, fragten 1797, als das alte Reich zu Ende ging, Goethe und Schiller. Heute ist das keine Frage: Es gibt den Staat Bundesrepublik Deutschland mit geographisch eindeutigen Grenzen. Sein Staatsvolk, die Deutschen, ist allerdings aus dem herrschenden politischen Diskurs verschwunden.
Der Name Deutschland kommt in den Wahlprogrammen der im Bundestag vertretenen Parteien häufig vor, jedoch mit unterschiedlicher Bewertung. Für die CDU/CSU handelt es sich um ein Hochwertwort: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, lautet der Titel ihres Programms, und der Text liest sich, literarisch gesehen, streckenweise wie ein „Länderlob“. Deutschland sei in vielen Bereichen Weltmeister, ob nun als „Kulturnation“ oder „Wirtschaftsstandort“, und habe den Höhepunkt seiner Geschichte erreicht: „Heute leben wir im schönsten und besten Deutschland, das wir je hatten“.
Bei der SPD klingt das Länderlob verhaltener, aber dennoch deutlich: „Deutschland ist ein stabiles Land“, ja „ein starkes Land“, kurz: „unser Land“. Die LINKE vermeidet dieses umgreifende unser: Deutschland ist für sie „ein Land, in dem viele Menschen arm sind“ und „eines von vier Ländern mit den meisten Millionärinnen und Millionären“. Die GRÜNEN lassen sich auf ein Länderlob noch nicht ein, wünschen es aber für die Zukunft: „Wir wollen Deutschland zum ökologischen Spitzenreiter machen“.
Deutschlands Bewohner heißen im allgemeinen Sprachgebrauch Deutsche. Die vier Parteien umgehen dieses Wort, es kommt auf 550 Seiten Text nur fünfmal vor: Dreimal bei CDU/CSU, je einmal bei SPD und GRÜNEN. Die LINKE verwendet den Volksnamen Deutsche nicht, aber viermal eine Untergruppe: die Ostdeutschen.
Statt Deutsche werden in den Wahlprogrammen die Bewohner Deutschlands Menschen genannt: Bei den LINKEN fast durchgängig, bei den drei anderen Parteien hauptsächlich, neben Bürgern (CDU/CSU), Bürgerinnen und Bürger (SPD) und Bürger*innen (GRÜNE). Deutschland ist also parteiübergreifend „Menschland“ und mehr oder weniger „Bürgerland“.
Das Schicksal begünstigte übrigens die Deutschen nicht: „Flucht kennen viele Deutsche aus ihrer Familiengeschichte“ (GRÜNE); „Millionen Deutsche sind aufgrund von Flucht und Vertreibung […] innerhalb Deutschlands zu- und umgezogen“ (CDU/CSU). Aber das ist Geschichte, die Geschichte der alten Deutschen. Könnte die Zukunft nicht in den neuen Deutschen liegen? „Zu unserem Land gehören alte und neue Deutsche“, meint die CDU/CSU. Vielleicht bringen diese neuen Deutschen den Volksnamen Deutsche(r) mehr als fünfmal in die Wahlprogramme 2021.
PS.: Empirisch gesehen folgen die Wahlprogramme der ethnischen Wirklichkeit: Je nach Zählweise weist heute ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung Migrationshintergrund auf, wie es neudeutsch heißt. Viele davon sind zwar im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit; aber offensichtlich reicht dies nicht, um „deutsch“ im Sinne der Verfasser von Wahlprogrammen zu sein, weswegen sie nicht als Deutsche angesprochen werden, sondern nur als „Menschen“. Das sagt viel aus über die als gescheitert unterstellte Integration dieser Zuwanderer. Oder ist es so, dass die Parteien sich für alle Menschen innerhalb der deutschen Grenzen zuständig fühlen, völlig unterschiedslos? Also für alle, „die da sind“, wie es die Bundeskanzlerin so entwaffnend formuliert hat? Nur: Wer ist dann das Staatsvolk, wer darf überhaupt wählen, wessen Interessen vertreten die Politiker? Gibt es auch eine „Partei der Deutschen“, also eine Interessenvertretung dieser nur noch als historischer Restbestand zu begreifenden Gruppe? Wie groß ist die?
Aber vermutlich ist das zu kompliziert gedacht. Die Verfasser von Wahlprogrammen stellen sich solche Fragen nicht. Sie bewegen sich im Unbestimmten, bleiben vage, unbewußt ungenau. Damit drücken sie doch etwas sehr deutsches aus: Die Unsicherheit über die eigene Identität.
Helmut Berschin ist Professor em. für Romanische Sprachwissenschaft.