Tichys Einblick
Corona-Paradoxien

Deutschland ohne Strategie

In Deutschland laviert sich die Regierung Merkel angestrengt durch einen Corona-Dschungel. Der kritische Blick auf die bisherigen Fehler bleibt weitgehend aus. Wie machen es die Nachbarländer?

imago Images/IPON

In Deutschland wird die Abwesenheit einer zentralen Planung der Maßnahmen gegen die Epidemie immer offenkundiger. Im Vergleich zu anderen Ländern haben sowohl die Kanzlerin als auch der Bundespräsident sehr lange gebraucht, bis sie sich mit Reden an ihr Volk wandten. Als sie am Montag schließlich mit einem gänzlich uncharismatischen Doppelschlag doch ihrer Pflicht nachkamen und die Bundesbürger über das Unabwendbare informierten, war offensichtlich, dass dies zu spät kommt und vermutlich zu wenig sein wird. Auch die angehängte Abendansprache vom Mittwoch ließ nicht aufhorchen: Zum einen hatte Merkel wirklich nichts Neues zu verkünden, zum anderen wirkten auch ihre Jovialitäten gegenüber Volk und medizinischem Personal einstudiert und mussten ihr Ziel verfehlen – vor allem weil hinter dem Gestus der nationalen Kraftanstrengung keine wirkliche Energie zu erkennen war. Zu sehen war nur die fortgesetzte Verwaltung der Krise mit leicht erneuerter Rhetorik. Wohin lässt Merkel das Land noch treiben?

Was getan hätte werden müssen

Alexander Kekulé, Mikrobiologe und Virologe an der Universität Halle-Wittenberg, fordert schon seit Beginn der Pandemie, jeden Patienten mit schweren grippeartigen Symptomen auch auf das Coronavirus zu testen. Doch das federführende Robert-Koch-Institut empfiehlt dies bis heute nicht. Allenfalls Stichproben werden gemacht. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) hatte Kekulés Forderung in einer Phoenix-Sendung schon Anfang März sofort zugestimmt, entgegnete aber auf die Nachfrage der Moderatorin (»warum passiert das dann nicht?«) mit einem lapidaren »Man muss ja nach vorne gucken«.

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Das ist freilich genau die Art von politischem Flatterdialog zwischen verpasster Chance und Zukunftsgerede, der dazu führt, dass man das Angehen von Problemen ständig ins Morgen projiziert, statt es im Hier und Jetzt zu praktizieren. Dazu wäre nämlich ein gewisses Engagement ebenso nötig wie eine ehrliche Bestandsaufnahme der bisherigen Versäumnisse und Fehler. Doch diese Bestandsaufnahme wird normalerweise schon allein deshalb verweigert, weil der Befragte sich entweder nicht zuständig fühlt oder aber sich nicht im Besitz aller wichtigen Informationen wähnt (oder das behauptet). Eine Art Problemdelegation aus politischem und intellektuellem Duckmäusertum.

Doch Kekulés Kritikpunkte waren damit nicht erschöpft. Sein Auftritt hätte eine wahre Fundgrube für jeden Gesundheitspolitiker sein können. So hatte er die sofortige Schließung von Kindergärten, Kitas und Schulen gefordert. Nach Ablauf der Frühjahrsferien hätte man so feststellen können, welche Familien den Virus aus dem Südtirol-Urlaub eingeschleppt hätten. Warum hat man es nicht gemacht? Aus wirtschaftlichen Gründen, um die berufstätigen Eltern nicht zu belasten. Eine Berechnung aus Großbritannien spricht von einem Verlust von 3% beim Bruttoinlandsprodukt, wenn man die Schulen für vier Wochen schließt. Das erklärt, warum man sich dieses Instrument zunächst aufhebt.

Eine eminent politische Frage

Lauterbach ging in der Sendung einfach davon aus, dass wir in Deutschland nicht so viele Fälle haben werden. Man ging von so vielem aus. So wähnten sich viele noch im Januar und der ersten Hälfte des Februars sicher vor einem größeren europäischen Ausbruch. Nun fehlt die Schutzkleidung für das medizinische Personal, da man sie vor einem Monat nach China verkauft hat, wie Kekulé feststellte.

Doch Lauterbach wollte keine Spahn-Schelte betreiben, keine Kritik am Koalitionspartner üben: »Und was gewesen ist, da müssen andere, also das ist nicht… das ist… gehört hier nicht hin.« Aber wer soll diese Kritik dann statt Herrn Lauterbachs üben? Die grünen Merkel-Apostel, die roten Selbstbeschäftigungsspezialisten oder die schwachbrüstige FDP? Kritik von der AfD dürfte Lauterbach ja auch nicht genehm sein. Diese Große Koalition, auf diese Art geführt, macht einfach jede politische Diskussion kaputt. Und ja, gerade weil es um unser aller Gesundheit geht, handelt es sich hier um eine eminent politische Frage.

Auch Temperaturmessungen bei der Einreise hatte Kekulé früh gefordert. Damit hätte man zumindest das am stärksten erkrankte Drittel der Patienten erfasst, die auch »starke Virusausscheider« seien. Wir erinnern uns, dass Jens Spahn dieses Mittel ablehnte, weil es nicht effizient, nicht eindeutig genug sei. Man sieht, an allen Fronten hat man das Problem laufen lassen. Nun muss man das exponentielle Wachstum zur Kenntnis nehmen, also eine beständige Verdoppelung der Fallzahlen im gleichen Zeitraum. Ob ein Shutdown ohne striktes Ausgangsverbot daran etwas ändern kann, wird man sehen. Kekulé fordert beides zusammen inzwischen als Ultima ratio – als letzte Ausfahrt, bevor wir das Gesundheitssystem an die Wand fahren.

Am Wochenende legte der Virologe im Deutschlandfunk nach und forderte, »die Coronaviren so lange und so gut es geht aus dem Land« zu halten. So schaffe man es vielleicht, sicher in den Sommer zu kommen. Denn zumindest besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass das Virus durch die höheren Temperaturen an der Ausbreitung gehindert wird. Doch auch dieser Vorschlag scheint in Berlin nicht zu verfangen. Schutz nach außen wie nach innen ist einfach nicht die Sache dieser Bundesregierung, auch wenn die Kanzlerin das Wort noch so sehr betont. Wie es aber scheint, hat man schlicht die eigenen Pandemie-Pläne nicht gelesen (vgl. »Wir haben es vergeigt«).

Staaten mit erfolgreicher Eindämmung

An Statistiken zum weltweiten Epidemieverlauf kann man relativ gut erkennen, wie sich das Wachstum der Fälle in China ab einem gewissen Punkt deutlich abflachte und wie es danach durch die – vor allem in Südkorea, Iran und Europa – um sich greifende Pandemie exponentiell wiederkehrt. Inzwischen hat die Restwelt China schwungvoll überflügelt. Von über 245.000 Infektionen seit Beginn der Epidemie gehören nur noch etwas mehr als 81.000 zu China. In nur vier Tagen verdoppelte sich die Zahl der Fälle im Rest der Welt zuletzt. Deshalb müsste allen klar sein: Ohne einschneidende Maßnahmen wird man diese Pandemie nicht aufhalten. In Hubei half nur der »Lockdown«, um das exponentielle Wachstum zu stoppen. Dasselbe galt für die Krankheitsdynamik in ganz China, die ebenfalls nur durch nationale Zwangsferien gebremst werden konnte.

International mehren sich die Stimmen, die sagen, dass es überhaupt nur die chinesische oder südkoreanische Methode gebe, um diese Krankheit aufzuhalten. Beiden Methoden sind die radikale Eindämmung und Isolierung gemeinsam, im demokratischen Südkorea zudem ergänzt durch eine sehr transparente Testpraxis, die alle Altersstufen einbezieht. Daneben hat auch das kleine Taiwan, das über starke Verbindungen nach China verfügt, einen konsequenten Eindämmungsansatz betrieben und war damit bisher mit nur 135 Infizierten und einem Todesfall äußerst erfolgreich.

Dabei hat die Eindämmung in Taiwan auch ohne autoritären Stil in Politik und Verwaltung funktioniert, dafür mit genauem Hinsehen. In der Phoenix-Sendung sparte Lauterbach nicht mit Lob für die chinesische Massenquarantäne in Wuhan. Kekulé lehnte eine ähnliche Maßnahme für Deutschland ab, weil sie irrationale Reaktionen (z. B. panische Abreisen) hervorrufe und daher gar nicht richtig wirken könne, wie man auch in Italien inzwischen beobachten konnte. Lauterbach schwärmte von einem Monat gewonnener Zeit dank der tapferen Chinesen von Wuhan. Zeit, die wir nicht genutzt haben, erwiderte Kekulé halb spottend.

Lauterbachs Gesamtargumentation beschreibt er später als »netten Beschwichtigungsversuch«. Die Situation sei aber unter einer Bedingung noch zu retten: »Wenn wir jetzt entschlossen handeln und spät aber doch das passiert, was notwendig ist«, dann hätte man noch eine Chance, die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Wenn ich Kekulé richtig verstehe, dann meinte er, dass es eine einheitliche, entschlossene Lösung für das ganze Land geben müsse, keine differenzierten Zonen.

Endziel »Herdenimmunität« und Infektionsfatalismus

Doch diese Lösung ist in Deutschland nicht in Sicht. Seit einiger Zeit wundert man sich über die deutsche »Anomalie«. Das Rätsel besteht in der sehr niedrigen Sterblichkeitsrate: nur 44 Todesfällen bei 16.290 Infizierten (Stand 20. März laut Center for Systems Science and Engineering (CSSE) der Johns Hopkins Universität), das sind nicht einmal 0,3 Prozent. Vor einigen Tagen waren es noch 1.225 Infektionen und kein einziger Todesfall.

Dafür sind zwei Erklärungen möglich: Die einen behaupten, dass man in Deutschland mehr testet und so die Dunkelziffer der Infektionen senkt. Man weiß von mehr Infektionen, daher sinkt die Sterblichkeit pro getestetem Infiziertem. Die anderen meinen im Gegenteil, man testet in Deutschland zu wenig, zum Beispiel nicht postum, und findet nicht alle Corona-Toten.

Angela Merkel, wie immer schwer zu deuten, versteckt sich derweil hinter dem Föderalismus und ihrem Kabinett und gibt so die Verantwortung für die Richtlinien der Politik ab. Gleich bei ihrem ersten Auftritt zum Thema hat sie eine epidemiologische Einschätzung (60–70% der Bevölkerung würden irgendwann infiziert sein) zum politischen Statement umgemünzt und so eine Art Infektionsfatalismus verbreitet, der durch das Durchsickern dieser Zahl ohnehin schon im Volk latent ist.

Jens Spahn versucht uns derweil den Katastrophenschutz ganz sanft einzutröpfeln, sagt dabei einen Teil der Wahrheit und verschweigt einen anderen: Der Unterschied zur Grippe bestehe darin, dass es eben noch keinen Impfstoff gibt. Ja, und keine sichere Therapie, wie die Kanzlerin beizutragen wusste. Zur Abwehr des Virus solle man sich einfach so verhalten wie, wenn einer eine Grippe hat. Anscheinend hat man sich in Deutschland für das Modell »Herdenimmunität« entschieden, in dem man den Lauf der Infektionswelle nicht durch rigide Maßnahmen aufhalten will, da dieselben ja die Wirtschaft schwächen könnten.

Der Schutz der sensiblen Bevölkerungsteile ist jedem Einzelnen anheimgestellt. Auch nur orientierende Empfehlungen von den Behörden, die von vielen Menschen erwartet werden, fehlen fast zur Gänze. Alles ist nach Belieben zu handhaben. Das ist nun wirklich der Mittelweg, der »in Gefahr und größter Not« durchaus Übles prophezeit. Dass dieser Weg der delegierten Verantwortung dem Zulassen einer demographischen Ausdünnung der Bevölkerung gleichkommt, stört offenbar niemanden. Oder doch?

Lautet die Parole also so: »das Gleichgewicht zwischen Angesteckten und Nicht-Angesteckten pendelt sich langfristig auf 60–70% ein, wir lassen das einfach mal durchlaufen«? Das wäre ein zynischer Politikansatz, solange nicht für die Alten und Kranken eine spezielle Vorsorge betrieben wird. 

Die rot-grüne Regierung in Schweden hat einen ähnlich dezentralen Politikstil gewählt – mit Schulen, die selbst entscheiden, was zu tun ist, und Experten, die offen von »Herdenimmunität« sprechen. Man testet in Schweden inzwischen nur noch Ältere und Krankenhauspatienten.

Ein Seitenblick auf Griechenland

Die griechischen Nachrichten geben neben Expertenstimmen zur Zeit den Nachrichten aus Italien großen Raum. Zahlreiche griechische Ärzte praktizieren in dem Land jenseits der Adria und berichten aus erster Hand vom Zusammenbruch eines Gesundheitssystems: Krankenhäuser ohne freie Betten, infizierte Ärzte und Pfleger auf der Intensivstation, die ersten eingelieferten Patienten bereits sämtlich verstorben. Eine Ärztin sagt mit bebender Stimme: »Es ist sehr schwer, und ich möchte den Griechen gerne etwas sagen, denn zuallererst bin auch ich Griechin: Gebt acht! Verlasst eure Häuser nicht, habt keine Kontakte zu anderen, geht nicht in die Cafés, bleibt zu Hause. Was wir erleben, ist anders als alles, was wir bisher erlebt haben.«

In Griechenland stellt man die Vorsorge unter das – einstweilen noch freiwillig zu befolgende – Motto »Wir bleiben zu Hause«, was vielen, auch und gerade älteren Griechen nicht leicht fällt. Zu sehr sind sie an den Ausgang ins Café, zum Karten- oder Backgammonspiel gewöhnt. Besorgt zeigt man sich in dem kleinen Land dabei um jeden einzelnen Erkrankten. Derzeit werden 16 Patienten beatmet. Insgesamt gibt es an die 500 Infizierte, deren Zahl zuletzt aber auch deutlich anstieg. Die einschneidenden Maßnahmen der Regierung werden daher von den meisten akzeptiert. Kindergärten, Schulen und Universitäten wurden zuerst geschlossen, in dieser Woche folgten Bars, Cafés, Restaurants und Einkaufszentren. Bis zum 30. April schließen auch die meisten Hotels.

Man macht sich keine Illusionen: Zur stärker gefährdeten Gruppe gehört die halbe Nation, und das Virus sei inzwischen überall. Daher die aus Italien übernommene Botschaft: »Wir bleiben zu Hause.« Notwendige Einkäufe bleiben natürlich möglich. Doch der Athener Ärzteverband forderte auch für Supermärkte und Apotheken ein Reglement, das Zugangsbeschränkungen mit einer Steigerung der Freihauslieferungen verbindet. Das griechische Vorgehen folgt sehr frühzeitig dem Vorbild Italiens und Spaniens und ähnelt so eher der Methode Kurz als dem Weg, auf den uns Merkel führt. 

Seit Montag sind alle Strände und Skigebiete gesperrt. Viele Griechen hatten, ähnlich wie die Spanier, das Zuhause-bleiben-Gebot mit einer Aufforderung zum Kurzurlaub verwechselt. In einem allerdings gleicht Mitsotakis’ Kurs dem der Regierung Merkel von außen betrachtet: Noch hat er das letzte Mittel der Ausgangssperre nicht gezogen. Seine Drohung damit wirkt allerdings, denn mit dem jungen Premier verbindet sich durchaus eine Vorstellung von Autorität.

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