Mehrere Prozesstage im Fall Kim A. sind am Oberlandesgericht Frankfurt nun vergangen. Über den Auftakt hatten wir berichtet. Die junge Frau ist eine der berühmtesten IS-Rückkehrerinnen: Sie verkehrte mit prominenten Salafisten und erzählte dem Spiegel-Journalisten Christoph Reuter ihre IS-Story, die 2017 im Buch „Maryam A. – Mein Leben im Kalifat“ veröffentlicht wurde, das seine zweite Auflage erhielt. Das macht den Prozess besonders interessant, denn das Buch spielt mit bereits getätigten Aussagen eine wichtige Rolle.
Doch der Fall ist auch ein besonderer, weil es um eine Frau geht. Bis vor wenigen Jahren galten IS-Frauen noch als naive, verführte Frauen, obwohl sie schon immer eine wichtige Rolle im IS spielten. Auch heute werden noch einige IS-Frauen verschont, wenn sie nur eine Bewährungsstrafe erhalten, dafür dass sie einer Terrororganisation angehörten. Schon am ersten Prozesstag versuchte Kim A. ihren Weg zum Dschihad mit einer neu gefundenen Familie, die sie selbst nie hatte, zu begründen. Auch in den darauffolgenden Prozesstagen beteuert sie, dass sie lieber mit ihrem Ehemann Onur E. in den Krieg gereist wäre, als ohne ihn in Deutschland zu bleiben. „Nur Onur war wichtig“, die Religion hätte bei der Entscheidung keine Rolle gespielt.
Der zweite Prozesstag
Wusste sie nun doch die Bedeutung ihre Codenamens „Märtyrerin“?
Wie auch beim ersten Prozesstag sitzt Kim A. ruhig vor dem Mikrofon. In einer humorvollen Gelassenheit beantwortet sie die Fragen des Gerichts. Ihre Op-Maske hat sie unterhalb des Mundes übers Kinn gezogen; geimpft wurde sie bereits. Doch absetzen will sie die Maske trotzdem nicht, vielleicht möchte sie ihr Gesicht nicht vollständig zeigen – vielleicht ist ihr die Situation doch unangenehmer als sie durchblicken lässt. Richter und Staatsanwaltschaft greifen erneut die Frage ihres Codenamens „Shahida“ auf. Kim A. behauptete zuletzt, sie hätte nicht gewusst, dass dieser „Märtyrerin“ bedeutet. Dies passt nicht mit einer früheren Aussage zusammen, in der es hieß, dass dieser Name trotz vorheriger Bedenken ihres Ehemannes im Islamischen Staat gut angekommen sei. Kim A. kommt auffällig in Erklärungsnot, sie wirkt plötzlich sehr unsicher. „Ich weiß es nicht mehr“, sagt sie wie so oft. Dann wirft sie plötzlich ein, dass sie damals glaubte zu wissen, es hätte entweder Zeugin oder Märtyrerin bedeutet. Doch der Staatsanwalt lässt nicht locker. Woraufhin sie meint, „entweder oder“ im Sinne von „beides“ zu verstehen. „Also wussten sie es ja doch?“, fragt der Staatsanwalt. „Kann sein, dass ich das wusste“, entgegnet sie dann doch.
Beim letzten Prozesstag fragte der Richter, ob Kim A. es sich nicht zu einfach mache. Dieser Eindruck verstärkt sich mit jeder Stunde vor Gericht mehr. So erklärt sie tatsächlich, dass sie „wegen des Klangs, nicht wegen der Bedeutung“ diesen Namen sich selbst ausgesucht habe. „Sie erzählen alles sympathisch und witzig. Doch kann das sein, dass sie anders drauf waren, als Sie sich selbst eingestehen. Waren Sie damals salafistisch?“, fragt der Richter ernst. „Ich finde nicht“, entgegnet sie eisern, „dann hätte ich auch früher ausreisen können“.
Als Zuschauer vermisst man eine Einsicht bei der Angeklagten, aber auch eine Ernsthaftigkeit. So beschreibt sie das schlechte On-Off-Verhältnis mit der Familie ihres türkisch-stämmigen Ehemanns als „das ist ja das Lustige an der Sache“. Doch „lustig“ ist nichts an einem eingeschlagenen Weg zum IS.
Reise nach Syrien: „Wie blauäugig kann man sein?“, fragt der Richter
Kann es wirklich sein, dass man nach Syrien zu einer Terrororganisation planvoll reist, ohne aber zu wissen, ob man bei der Gruppe „al-nusra-Front“ oder dessen Abspaltung „Islamischer Staat“ (IS) ankommt? Die Angeklagte behauptet, sie hätte bis zum Grenzübertritt zu Syrien nicht gewusst, zu welcher der beiden Terrorgruppen die Reise hingeht. „Wie blauäugig kann man sein?“, fragt der vorsitzende Richter, der noch auf einen weiteren zentralen Punkt eingeht. Da Kim A. eine letzte Möglichkeit eines Abbruchs vor der Grenze nicht genutzt hat, fragt er: „Da überlege ich mir, ob Sie sich das nicht schön reden und nicht auch dahin wollten?“ – „Nein, todsicher“, beteuert sie. Bis sie beim IS ankam, wäre ihr „wurst“ gewesen, zu welcher Terrorgruppe es geht. Und so rannte sie nachts über die syrische Grenze mithilfe eines Schmugglers, der vom IS mit 50 Dollar im Voraus bezahlt wurde. Onur E. bekam kurz vor seiner Reise in den Dschihad vom deutschen Staat noch seine Staatsbürgerschaft und einen neuen Reisepass. Im Buch beschreibt sie, wie sie am letzten Tag vor ihrer Reise in Frankfurt noch viel Marihuanna rauchte, um den Gedanken zu verkraften, dass sie bald mitten im Krieg sitzen würde. So wie im Buch versucht sie vor Gericht zu schildern, dass sie aus Liebe zu ihrem Mann nach Syrien reiste. Ihre Verteidigerin fragt sie: „Hat eine Rolle die Religion bei der Entscheidung gespielt?“ – „Gar keine“, sprudelt sofort aus ihr heraus. Kann Liebe wirklich die Reise zu einer Terrorgruppe rechtfertigen?
Der dritte Prozesstag, an dem die Tränen fließen
Der dritte Prozesstag beginnt. Und dieser beginnt diesmal weniger locker. Gleich zu Beginn kritisiert der Richter, dass die Angeklagte in ihrem Buch nur auf sich selbst schauen würde. In der Tat wundert man sich beim Lesen des Buches dauerhaft. Da beschreibt sie durchgehend, wie sie sich um ihre Katzen sorgt; einmal trauert sie um eine ihrer verstorbenen Katzen. Man fragt sich: Wo ist die Sympathie für die Menschen, die unter dem IS leiden, die versklavt oder hingerichtet wurden? Im Buch findet man dazu keine Trauer – außer um ihren Ehemann, der wegen einer Kampfausbildung nicht bei ihr sein kann. „Das eigentlich Schlimme ist doch, dass er zum Mörder ausgebildet wird“, sagt der Richter, „dass er dort womöglich bestialisch gemordet haben muss. Ist ihnen die Bedeutung klar?“. Kim A. atmet wie so oft bei bedeutsamen Fragen tief aus: „Ja. Ich habe es dort ausgeblendet.“ In dem Moment kommt sie nicht rüber, als nehme sie das stark mit. Dass in Syrien Leichen übereinander gestapelt werden, erzählt sie doch tatsächlich mit Humor, ohne Mitgefühl. „Blenden sie das immer noch aus?“, fragt der Richter ernst, aber verständnisvoll. „Teilweise“, antwortet sie, und man hat das Gefühl, dass da wirklich was dran ist – es könnte ihre lockere, humorvolle Art erklären.
Als der Richter sagt „Sie müssen sich mal mehr irgendwann mit ihrer eigenen Schuld auseinandersetzen“ und ankündigt, dass sie dafür eine gerechte Strafe bekommen muss, fängt die IS-Rückkehrerin plötzlich an zu weinen. Es ist das erste Mal, dass sie solche Emotionen vor Gericht zeigt. Man hat das Gefühl, dass die Worte des Richters ihr bewusst gemacht haben, wie ernst die Frage der Schuld doch ist. Während ihre Tränen fließen, spürt man die Reue, die sich hinter all ihrem Humor womöglich versteckte.
„Ausblenden ist ihre Überlebenstechnik“, wirft ihre Strafverteidigerin ein. Doch nun ist die Ex-IS-Frau in Deutschland, nun steht sie vor Gericht, nun muss sie sich ihrer Schuld stellen – nicht zu vergessen: Drei Jahre lang wartete sie auf ihre Ausreise nach Deutschland; sie hatte genug Zeit, Einsicht zu erlangen, sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen. Beim nächsten Thema, dem Einzug in Häuser, deren rechtmäßige Besitzer geflohen, vertrieben oder getötet wurden, fehlt diese Einsicht schon wieder. Bei der Frage, was sie denn dachte, wem die Häuser gehören, entgegnet sie nur, dass sie glaubte, die Besitzer seien wegen den Kämpfen geflohen, andererseits sagt sie „ich habe nicht nachgefragt“. Im Islamischen Staat war es allgemein bekannt, welches Schicksal die rechtmäßigen Besitzer ereilte – wie kann sie das nicht gewusst haben? Hat sie das auch ausgeblendet?
Der vierte Prozesstag: Hatte sie eine Frau beim IS-Gericht angezeigt?
Wollte sie Kinder im Kalifat bekommen und ideologisch aufziehen?
„Nein“, antwortet Kim A. wiedermals voller Entschlossenheit auf eine Frage. Es geht darum, ob sie Kinder kriegen wollte. Vor Gericht sagt sie aus, sie wäre bloß einmal zur Hebamme gegangen. Im Buch heißt es dagegen: „Ich bin nur zweimal bei Soraya gewesen […] Selbst schwanger werden will ich zwar, zumindest anfangs, werde es aber einfach nicht, trotz Hormontabletten.“ Sie erklärt es vor Gericht ganz anders: Sie hätte wegen Zysten, nicht weil sei schwanger werden wollte, Hormontabletten erhalten; später hätte sich herausgestellt dass die Hormontabletten Verhütungstabletten gewesen wären, die sie dann wissentlich weiter eingenommen hätte. Diese Geschichte wirkt unglaubwürdig. Hätte Kim A. Kinder im Kalifat kriegen wollen, hätte sie diese auch ideologisch aufziehen müssen. Zudem war sie während des Dschihads in mehreren Chat-Gruppen Mitglied, in welchen Frauen aus Deutschland angeworben wurden. Angeblich war sie dort stille Teilnehmerin. Gleichwohl widerspricht dies wieder dem Buch, in welchem steht: „Wir haben auch vieles schön geredet“.
Dann wird die Leinwand ausgerollt. Ein Beitrag von Spiegel TV, der damals für die Bewerbung des Buches gedreht wurde, wird ausgestrahlt. Kim A. befindet sich in Syrien und trägt einen schwarzen Nikab, nur ihre Augen sind zu sehen. Auch in diesem Beitrag erzählt sie als vorgestellte „IS-Aussteigerin“ alles humorvoll und locker. Ernst wirkt sie dort genauso wenig wie im Gerichtssaal. Sie spricht von „Pseudo-Kalifen“ und der Satz, der beim Zuschauer besonderes hängen bleibt, lautet: „Sehr viel war eben falsch, was man da gemacht hat“ – denn dies wünscht man sich auch öfters im Gerichtssaal zu hören.