Tichys Einblick
Schulbücher zur Wende von 1989

Der vergessene Freiheitskampf in der DDR: Als ob Gorbatschow die Mauer geöffnet hätte

Die Friedliche Revolution in der DDR ist in deutschen Schulbüchern nur am Rande ein Thema. Der riskante Freiheitskampf der Ostdeutschen schrumpft dabei zu einer Folge außenpolitischer Veränderungen. Die protestierenden DDR-Bürger verfolgten angeblich vor allem egoistische Motive.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-0129-029 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0

Luca Rinne hat gerade Abitur gemacht, jetzt macht sie ein freiwilliges soziales Jahr bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Die DDR?,“ fragt sie bei einer Veranstaltung in Hannover, „ich kann mich nicht erinnern, dass wir die im Unterricht hatten. Nur am Ende der 10. Klasse ging es mal um die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen.“

So wie ihr geht es den meisten Schülern in Deutschland. Während der Nationalsozialismus in der Regel ausführlich erörtert wird, spielt die DDR so gut wie keine Rolle. Das liegt nicht nur daran, dass der Geschichtsunterricht in der Regel nur noch ein bis zwei Stunden pro Woche umfasst und teilweise mit anderen Fächern zusammengelegt wurde. In der zur Verfügung stehenden Zeit geht es auch immer weniger um historische Abläufe als um „Kompetenzorientierung“ und epochenübergreifende „Längsschnitte“ – wie es in den einschlägigen Lehrplänen heißt. Die DDR, der kleine deutsche Nebenstaat, bleibt da regelmäßig auf der Strecke.

Friedliche Revolution als Randthema

Das gilt auch und gerade für die Friedliche Revolution vor 30 Jahren. Das Jahrhundertereignis in der Geschichte der Deutschen wird eher beiläufig und manchmal fast widerwillig erwähnt. In vielen Lehrwerken findet man es nicht einmal im Inhaltsverzeichnis. In einer Ausgabe von Horizonte II aus dem Westermann Verlag versteckt sich der Freiheitskampf von 1989 zum Beispiel irgendwo zwischen den Kapiteln „Die DDR in der Ära Erich Honecker“ und „Die deutsche Einheit“. In Geschichte und Geschehen Oberstufe aus dem Klett Verlag findet man den Sturz der SED-Diktatur im Kapitel „Innerdeutsche Entspannung und Wiedervereinigungsprozess“.


Zwischen Entspannung und Wiedervereinigung – DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker (r.) mit den SPD-Politikern Oskar Lafontaine (l.) und Gerhard Schröder (Mi.) im September 1987 (2)

Dass die Ereignisse von 1989 in deutschen Schulbüchern so wenig Aufmerksamkeit erfahren, liegt unter anderem daran, dass das sozialistische Regime in der DDR in der Regel als Teil einer gemeinsamen Geschichte Deutschlands nach 1945 dargestellt wird. In den Ausführungen zu Deutscher Teilung, Kaltem Krieg, Entspannungspolitik und Wiedervereinigung geht die DDR gleichsam unter. Die übergreifende Betrachtungsweise schafft zudem eine problematische Äquidistanz zu beiden deutschen Staaten. Als junger Mensch gewinnt man den Eindruck, dass beide Systeme ihre Vor-und Nachteile gehabt hätten und wegen des Kalten Krieges schließlich die Mauer gebaut wurde. Das Aufbegehren der Ostdeutschen im Herbst 1989 wird so kaum verständlich.

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Bei manchen Schulbüchern springt die Darstellung sogar ständig zwischen der Bundesrepublik und der DDR hin und her. Bei Kletts Zeitreise 3 zum Beispiel werden unter der Überschrift „Jugend in Ost und West“ völlig unterschiedliche Lebensverhältnisse in einem Kapitel verhandelt. In ähnlicher Weise widmet sich Zeiten und Menschen 2, das 2009 im Schöningh Verlag erschien, den „Konsumwelten“ und dem „Frauenleben“ in beiden deutschen Staaten. Als Schüler verliert man dadurch nicht nur leicht den Überblick, in welchem System man sich gerade befindet, sondern übersieht auch schnell den fundamentalen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie. Zum Glück hat sich die aktuelle Ausgabe von Zeiten und Menschen 3 von dieser Herangehensweise wieder verabschiedet.
Gorbatschow als Held

Der Blick auf Deutschland als Ganzes führt auch zu einer deutlichen Verschiebung des politischen Kraftfeldes, das für die Friedliche Revolution verantwortlich gemacht wird. Während in der F.A.Z. kürzlich erbittert darüber gestritten wurde, ob die kleine Schar von Bürgerrechtlern oder die große Masse der Normalbürger der SED-Diktatur den Garaus gemacht hätte, präsentieren viele Schulbücher einen ganzen anderen Helden: Michail Gorbatschow. Ohne den sowjetischen Staats- und Parteichef, so der Tenor, wäre es nie zum Umsturz in der DDR und zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen.


Held der Friedlichen Revolution – Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow beim XI. SED-Parteitag 1986 (3)

Ein Beispiel dafür ist das 2009 erschienene Lehrbuch Geschichte und Geschehen II aus dem Klett Verlag. Im Kapitel zur Friedlichen Revolution geht es zunächst anderthalb Seiten lang um Gorbatschows Reformpolitik. Der Sturz der SED-Diktatur wird dann als deren Resultat abgehandelt – in 20 Zeilen. Anschließend beschreiben die Autoren ausführlich den Weg zur Deutschen Einheit, deren Folgen überaus kritisch dargestellt werden. Wie soll ein Jugendlicher da begreifen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands ohne den Freiheitskampf der DDR-Bürger niemals möglich gewesen wäre und dass sie ein enormes historisches Glück darstellte?

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Die Friedliche Revolution bleibt in den Schulbüchern auch deshalb so blass, weil sie kein Gesicht hat. Nicht ein einziger Bürgerrechtler – oder demonstrierender „Normalbürger“ – wird den Schülern näher vorgestellt. Selbst Bärbel Bohley, die ostdeutsche Jeanne d’Arc, wird nur selten erwähnt. Schon gar nicht lernt man, warum sie sich gegen die SED wandten, welchen Preis sie dafür zahlten und wie sie ihre Machtlosigkeit in Stärke verwandelten. Wie wichtig individuelle Schicksale für Jugendliche sind, weiß jeder, der schon einmal das Thema Nationalsozialismus unterrichtet hat. Bei der DDR fehlen solche Angebote weitgehend. In den Quellenteilen kommen stattdessen häufig Schriftsteller wie Christa Wolf oder Stefan Heym zu Wort, die vom „wahren“ Sozialismus träumen und die DDR retten wollen.


Revolution ohne Gesicht – die Mitbegründerin der DDR-Oppositionsbewegung Neues Forum Bärbel Bohley 1990 (4)

Egoistisch anmutende Motive

Dass der SED-Staat nicht dem sozialistischen Ideal entsprochen hätte, wird von einigen Lehrwerken stark in den Mittelpunkt gerückt. „Die mangelnde Übereinstimmung zwischen ideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit haben letztlich den Zusammenbruch des SED-Regimes in der DDR bewirkt,“ heißt es in Horizonte II. Da diese Diskrepanz aber für die gesamte Geschichte der DDR gilt, bleibt offen, warum der „Zusammenbruch“ gerade im Herbst 1989 erfolgte. Im selben Absatz wird dazu auf die „Unzufriedenheit“ der Bevölkerung verwiesen, die vor allem auf eine unzureichende Warenversorgung, politische Bevormundung und fehlende Reisefreiheit zurückgeführt wird. Der erhabene Kampf um Freiheit reduziert sich dadurch auf eher egoistisch anmutende Motive.

Unklar bleibt ebenso, warum sich die SED-Führung kaum gegen ihren Sturz gewehrt hat. Dass 1989 auch innerhalb der Partei und sogar bei den bewaffneten Organen die Zweifel am Unfehlbarkeitsanspruch des Politbüros wuchsen, wird praktisch nirgendwo erwähnt. Ähnliches gilt für die Tatsache, dass sich im autokratischen Herrschaftssystem der SED niemand traute, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen – zum Beispiel Panzer gegen Demonstranten einzusetzen. Dies – und nicht eine Entscheidung von Honeckers Kronprinz Egon Krenz, wie in Zeiten und Menschen 2 nahegelegt wird – führte dazu, dass es beim Protestmarsch am 9. Oktober in Leipzig zu keinem Blutvergießen kam.


Panzer gegen Demonstranten? – Fahrzeuge der NVA bei der Militärparade am 40. Jahrestag der DDR in Berlin (5)

Dass viele Autoren mit der Friedlichen Revolution wenig vertraut zu sein scheinen, zeigt sich auch daran, wie beliebig die damals aktiven Oppositionsgruppen erwähnt werden. Mal wird der „Demokratische Aufbruch“ hervorgehoben, mal die Gruppe „Demokratie Jetzt“, mal das „Neue Forum“. Nur ganz selten kommen die Bürgerbewegungen im Quellenteil selber zu Wort. Die Zweifel an der fachlichen Kompetenz werden durch eine erhebliche Zahl sachlicher Fehler bestärkt – vom falschen Datum des Honecker-Rücktritts über die angeblich „satirische“ Sowjet-Zeitschrift „Sputnik“ bis hin zur Verwechslung von Einigungs- und 2+4-Vertrag.

Problematische Interpretationen

Gravierender sind allerdings die problematischen Interpretationen, die manchmal regelrecht belehrenden Charakter haben. Vor allem in den älteren Lehrwerken ist die Angst der Autoren zu spüren, die Schüler könnten den Sozialismus zu negativ betrachten und darüber die Verbrechen des Nationalsozialismus vergessen. So wartet das bereits 1999 erschienene Geschichtsbuch Oberstufe aus dem Cornelsen Verlag mit der Behauptung auf, dass die deutsche Teilung „nicht erst 1949, nicht 1945 oder 1939, sondern 1933“ begonnen hätte. In Oldenbourgs Geschichte für Gymnasien aus dem Jahr 1998 wird den Schülern auf den Weg gegeben, dass die Wiedervereinigung „nicht als Geburt eines Nationalstaates verstanden werden“ darf, sondern nur „als Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufbau eines ‚gesamteuropäischen Hauses‘“. In Zeiten und Menschen ist an einer Stelle von den „beiden deutschen Völkern“ die Rede – so etwas hatte nicht einmal die SED behauptet.

Manchmal hat man den Eindruck, dass einige Autoren den Untergang der DDR eher bedauern. In Zeiten und Menschen wird hervorgehoben, dass mit deren historischen Weg „auch Hoffnungen verbunden“ waren und dass es unter ihren Bewohnern „nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter und Anhänger“ gab. Im Geschichtsbuch Oberstufe heißt es: „Ein Grund für die Loyalität der DDR-Bürger waren der langsam, aber stetig wachsende Lebensstandard und die Arbeitsplatzgarantie.“ Im selben Buch wird ein Essayist zitiert, der über die Freudenszenen beim Mauerfall schrieb: „Später wird man genau wissen, was diese Bilder zu bedeuten hatten. Dort begann eine glorreiche Geschichte – oder ein fürchterliches Unglück.“


Beginn eines fürchterlichen Unglücks? – Montagsdemonstration in Leipzig am 23. Oktober 1989 (6)

Einige Lehrwerke warnen auch davor, den Sieg der Demokratie im Herbst 1989 zu positiv zu betrachten. Laut Zeiten und Menschen besteht bei der DDR „heute die Gefahr einer einseitigen Aufarbeitungsrichtung ihrer Geschichte als ‚Verlierer‘“ und die „Versuchung, den Toten noch einmal zu erschlagen.“ Nicht nur dieses Zitat von Lutz Niethammer zeigt, wie sehr eine bestimmte Generation westdeutscher Historiker den Blick auf Ostdeutschland bestimmt. Höhepunkt dieser Selbstbezogenheit ist ein vierseitiger Essay im Geschichtsbuch Oberstufe, in dem der Mauerfall am 9. November in einer schwindelerregenden Kausalkette auf die westdeutsche 68er-Bewegung zurückgeführt wird. Wenn man Deutungen wie diese liest, kann man fast schon froh sein, dass die junge Frau aus Hannover von der DDR im Schulunterricht nie etwas gehört hat.


(1) Bundesarchiv, Bild 183-1990-0129-029 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-1987-0909-423 / Sindermann, Jürgen / CC-BY-SA 3.0
(3) Bundesarchiv, Bild 183-1986-0428-331 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0
(4) Bundesarchiv, Bild 183-1990-0905-019 / Uhlemann, Thomas / CC-BY-SA 3.0
(5) https://www.wir-waren-so-frei.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/373
(6) Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Friedrich Gahlbeck / CC-BY-SA 3.0


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