Tichys Einblick
13. August 1961

Der Tag, an dem die Mauer kam

Vor 60 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. 17 Millionen Ostdeutsche wurden durch sie zu Gefangenen ihrer eigenen Regierung. Was vielfach vergessen wird: Zu den Leidtragenden gehörten auch und gerade die Kirchen.

IMAGO / United Archives International

Der Befehl zum Bau der Berliner Mauer erging nicht in Moskau oder Ost-Berlin – sondern an einem idyllischen See in Brandenburg. Am 12. August 1961 gegen 16 Uhr unterzeichnete der Staats- und Parteichef der DDR, Walter Ulbricht, in seiner geheimen Residenz am Döllnsee die Anweisungen zur vollständigen Abriegelung West-Berlins.

In sein Vorhaben hatte Ulbricht nur einen kleinen Kreis von SED-Funktionären eingeweiht. Der Ost-Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert zum Beispiel erfuhr erst gegen 22 Uhr davon, als Ulbricht ihn am 12. August, zusammen mit anderen staatlichen Vertretern, zwecks „Einweisung in die vorgesehenen Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin“ in seine Residenz zitierte. Die Ost-Berliner SED-Führung wurde um Mitternacht informiert.

Um 1 Uhr nachts ließ Ulbricht dann die Alarmstufe I für die Einsatzleitungen ausrufen. Betriebskampfgruppen und Einheiten der Grenz- und Bereitschaftspolizei bezogen im Schutze der Dunkelheit an der Sektorengrenze Stellung. Dahinter postierten sich Soldaten der Nationalen Volksarmee und des Wachregiments des DDR-Staatssicherheitsdienstes. In der dritten Reihe hielten sich sowjetische Truppenverbände für den Fall bereit, dass die Westmächte eingreifen würden.
Um drei Uhr nachts begannen die Absperrarbeiten. Presslufthämmer rissen die Straßen auf, Pfähle wurden eingerammt, Drahtsperren errichtet und Erdwälle aufgeschüttet. Als kurz vor fünf die Sonne aufging, waren die knapp einhundert Straßen, die Ost- und West-Berlin miteinander verbanden, bereits größtenteils verbarrikadiert. Auch der S- und U-Bahnverkehr wurde an der Sektorengrenze gestoppt. Nur 13 Übergänge blieben offen, deren Zahl bald auf sechs reduziert wurde.

Organisiert hatte den Mauerbau der damals 48jährige Erich Honecker. „Vom damaligen Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Walter Ulbricht, wurde mir die Vorbereitung und Durchführung der hierfür erforderlichen Aktion übertragen,“ berichtete er stolz in seinen in der DDR erschienenen Memoiren. „Am späten Abend, eine Stunde vor Beginn der Operation, trat der von mir geleitete Stab im Berliner Polizeipräsidium zusammen.“

In den ersten Tagen bestanden die Absperrungen nur aus Stacheldraht und Betonpfählen. Als der Zentrale Stab zu dem Schluss kam, „dass der Westen nichts Besonderes unternehmen wird“, wurden die Drahtverhaue durch eine tatsächliche Mauer ersetzt. Unter Bewachung setzten Bauarbeiter Hohlblocksteinen aufeinander, die Krone wurde mit Glassplittern und Y-förmig gespanntem Stacheldraht gesichert. Die entgegen dem Viermächte-Status errichtete Grenze in Berlin ähnelte, um mit Willy Brandt zu sprechen, der „Sperrwand eines Konzentrationslagers“. Erst später wurde diese Mauer durch Betonsegmente ersetzt, die einen runden „Überkletterschutz“ aus Asbest besaßen und zuletzt eine Höhe von 3,80 Metern erreichten.

Die meisten Berliner waren von den Ereignissen überrumpelt worden. Viele merkten erst im Laufe des 13. August, was geschehen war. Freunde, Verwandte und Paare konnten plötzlich nicht mehr zueinander. Grenzgänger, die im Westen arbeiteten und im Osten lebten, durften nicht mehr zur Arbeit. Ost-Berliner Schüler, die im Westteil zur Schule gingen, kamen nicht mehr zum Unterricht.

Viele Berliner waren über das Vorgehen der SED empört. Anders als ein kürzlich erschienenes Buch behauptet, kam es nicht nur in West-, sondern auch in Ost-Berlin immer wieder zu Ansammlungen wütender Bürger. Bereits am Morgen des 13. August protestierten am Übergang Wollankstraße etwa 500 bis 600 DDR-Bürger. Auch an anderen Bahnhöfen und Straßen gab es mehrfach „Zusammenrottungen”. Am Arkonaplatz demonstrierten am 15. August 1.000 bis 2.000 Menschen. Die Volkspolizei, die die Anweisung hatte, Ansammlungen „energisch und grundsätzlich zu verhindern,“ musste teilweise Tränengas und Schlagstöcke einsetzen, um sie aufzulösen.

Trotz der Absperrungen versuchten viele, in letzter Minute doch noch in den Westen zu gelangen. Allein am 13. und 14. August flohen fast 7.000 Menschen an verschiedenen Stellen über die Sektorengrenze. Berühmt geworden sind vor allem die todesmutigen Sprünge und Abseilaktionen aus den direkt an der Grenze stehenden Häusern an der Bernauer Straße. Vier Menschen starben dabei – dann wurden die Fenster zugemauert, später die Häuser abgerissen.

Um „Grenzdurchbrüche“ zu verhindern, befahl das Politbüro den Sicherheitskräften, „dass jeder, der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen Republik verletzt – wenn erforderlich – auch durch Anwendung der Schusswaffe zur Ordnung gerufen wird.“ Das erste Opfer wurde der 24-jährige Günter Litfin, der am 24. August beim Durchschwimmen des Humboldthafens von zwei Transportpolizisten durch gezieltes MPi-Feuer in den Hinterkopf getötet wurde. In der letzten Sitzung des Zentralen Stabes am 20. September bekräftigte Honecker noch einmal den Schießbefehl. Insgesamt starben an der Berliner Mauer mindestens 140 Menschen.

Weil die innerdeutsche Grenze bereits 1952 versperrt worden war, konnte sich nach dem Mauerbau niemand mehr dem sozialistischen Regime entziehen. Die Ostdeutschen wurden zu Gefangenen ihrer eigenen Regierung. Zwischen August und Dezember wurden jeden Monat mindestens 1.500 Bürger aus politischen Gründen verhaftet. Manche hatten gegen das Vorgehen der SED protestiert oder die Unterzeichnung der verlangten Unterstützungsbekundungen verweigert, andere waren bei Fluchtversuchen gefasst worden. Bis Ende 1989 kamen 72.000 Menschen aufgrund des DDR-Grenzregimes ins Gefängnis.

Wie bei einer Zellteilung entstanden damals aus der Millionenstadt Berlin zwei getrennte Metropolen, in denen es alles zweifach gab: zwei Rathäuser, zwei Polizeipräsidien, zwei Zoos, zwei geisteswissenschaftlichen Universitäten, zwei Staatsbibliotheken usw. Auch der öffentliche Nahverkehr und die Leitungen für Trinkwasser, Abwasser, Strom, Telefon und Gas wurden in zwei getrennte Netze aufgespalten.

Administrativ war Berlin zwar schon lange vorher geteilt, doch gefühlt lebten die Berliner bis zum 12. August noch in einer Stadt. Erst danach kam es zu der tiefgehenden Spaltung, deren baulichen, politischen und mentalen Folgen man bis heute sehen kann. Zweieinhalb Jahre dauerte es, bis die West-Berliner zum ersten Mal wieder in den anderen Teil der Stadt durften, Ost-Berliner mussten bis 1989 warten.

Zu den Leidtragenden der Teilung, das wird oft vergessen, gehörten in besonderem Maße auch die Kirchen. Die Diözese Berlin umfasste – natürlich – auch den Westteil der Stadt. Gleiches galt für die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg. Doch eine seelsorgerliche Arbeit über die Mauer hinweg war praktisch unmöglich. Der evangelische Bischof Otto Dibelius durfte nicht einmal mehr in die DDR einreisen.
Aber auch einzelne Gemeinden waren über Nacht geteilt worden. So befand sich die evangelische St.-Thomas-Kirche in Kreuzberg, mit 3.000 Plätzen einst das größte Gotteshaus Berlins, mit einem Mal im Westteil der Stadt. Für die im Ostteil lebenden 40 Prozent der Gemeindemitglieder war sie 28 Jahre lang unerreichbar. Auch nach dem Fall der Mauer fand die Gemeinde nicht mehr zusammen.

Noch schwerer traf es die evangelische Versöhnungsgemeinde in den Bezirken Mitte und Wedding. Ihr Gotteshaus lag genau in der 100-Meter-Sperrzone, die auf Anordnung Honeckers entlang der Mauer gebildet wurde, um freies Schussfeld zu haben. Deshalb wurde nicht nur die Gemeinde durch die Mauer geteilt, sondern auch die Kirche durfte nicht mehr betreten werden. Bereits am 21. August wurde der nach Westen zeigende Eingang zum Kirchengelände zugemauert. Später nutzten die Grenztruppen den Kirchturm als Wachturm. 1985 wurden die Kirche schließlich gesprengt – auf Befehl von DDR-Staatssekretär Klaus Gysi, dem Vater des Linken-Politikers Gregor Gysi.

Auch die katholische Sankt-Michael-Gemeinde, die in den Bezirken Mitte und Kreuzberg lag, wurde durch den Mauerbau geteilt. Das drittälteste Gotteshaus der Berliner Katholiken lag diesmal im Ostteil der Stadt, so dass die West-Berliner Gemeindemitglieder es nicht mehr aufsuchen konnten. Als Ersatz errichteten sie sich 1965 einen schmucklosen Neubau, weshalb es in der Hauptstadt zwei Sankt-Michael-Kirchen gibt. Die Mauer versperrte auch den Blick auf die alte Kirche, von der man vom Westen aus nur noch die obere Hälfte und den Turm sah. Der Künstler Yadegar Asisi malte deshalb auf den Beton ein Bild, das die Illusion erzeugte, der Weg zur Kirche sei immer noch offen. Auch die Sankt-Michael-Gemeinde fand nach 1989 nicht mehr zusammen.

Der Tag, an dem die Mauer durch Berlin gezogen wurde, liegt nun 60 Jahre zurück. Seit dem Fall der Mauer ist mehr Zeit vergangen, als diese existierte. Doch die Wunden, die damals geschlagen wurden, sind bis heute nicht vollständig verheilt.

Der Text erschien zuerst in: Die Tagespost vom 12. August 2021

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