Tichys Einblick
Corona-Demo Berlin

Der Reichstag wurde nicht „erstürmt“, sondern von drei Polizisten bewacht

Politikern und Journalisten kommt der kleine Treppensturm, selbst wenn er keine Schäden anrichtete, sehr gelegen, um die Kritik an den Zigtausenden Demonstranten aus ganz Deutschland zu verschärfen.

imago Images/Stefan Zeitz

Was für eine „Heldentat“ – ganze drei Berliner Polizisten verteidigen den Reichstag gegen hunderte Demonstranten, die mit der Anti-Corona-Politik nicht einverstanden sind. Vor allem sollen es „Rechte“ gewesen sein, die nach der Großdemonstration am Samstagabend, die Treppen zum Reichstag heraufstürmten. Polizisten allein zu Haus – wirklich?

Ganze drei Polizisten halten angeblich 400 Demonstranten auf. Sie werden dabei nicht verletzt. Es gibt auch keine bislang bekannt gewordene massive Sachbeschädigung. Sie erstürmen die Treppen der Volksvertretung. Verletzten sie Polizisten? Randalierten und zerstörten sie? Nein.

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Aufgebrachte Protestierende lassen sich also abhalten von drei Polizisten. Sie respektieren somit deren Abwehr-Einsatz im Wesentlichen. Das ist für beide Seiten eigentlich okay. Vor allem zerstören die Demonstranten nichts – ganz im Gegensatz zur gewalttätigen sogenannten „Party- und Eventszene“ von Stuttgart Ende Juni. Dort konnten 280 Einsatzkräfte der Polizei in der baden-württembergischen Landeshauptstadt einen randalierenden Mob von Migranten und Linken beim Zerstören der Innenstadt ganz und gar nicht aufhalten.

Der Vergleich müsste im Grunde jeden Politiker und Journalisten zum Nachdenken anregen. Hier zum näheren Verständnis das Verhältnis an beiden Tatorten:

Berliner Reichstag ohne Sach- und Körperschäden:
Drei Polizisten gegen 400 aufgebrachte Demonstranten im Verhältnis 1 zu 133.
Stuttgarter Innenstadt mit Zerstörung und verletzten Beamten:
280 Polizisten gegen 500 gewalttätige Randalierer gleich 1: 1,8

Angeblich wurde die Berliner Polizei am Reichstag überrascht

Die Polizei sei selbst überrascht worden vom „Sturm auf den Reichstag“. Auch deshalb waren zunächst zu wenige Einsatzkräfte an diesem neuralgischen Punkt postiert. Sie wären bei der russischen Botschaft im Einsatz gewesen, behauptet die Polizei. Der Berliner SPD-Innenexperte Tom Schreiber glaubt gar, das Problem sei das Einsatzkonzept der Polizei gewesen. „Das Verfassungsorgan Bundestag wurde nicht wirklich im Einsatzkonzept berücksichtigt.“ Wer soll das glauben, wenn am selben Tag eine Großdemonstration in Berlin gegen die aktuelle Bundespolitik Angela Merkels stattfindet? Da lässt man den Reichstag ungeschützt?

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Andererseits kommt linksorientierten Politikern und Journalisten der kleine Treppensturm, selbst wenn er keine Schäden anrichtete, sehr gelegen, um die Kritik an den Zigtausenden Demonstranten aus ganz Deutschland zu verschärfen. Dabei ist dann jedes Klischee hilfreich. „Am Reichstag stürmten einige hundert Protestler die Treppen, unter ihnen viele Rechte,“ beschrieb der eher linke Berliner Tagesspiegel prompt die Szene. Anders gelesen, waren von den inzwischen behaupteten 400 Demonstranten auf den Reichstagstreppen auch sehr viele gar keine Rechten. Auf Bildern ist auch ein türkische Flagge unübersehbar.

Im Duktus seiner Kanzlerin empört sich am Montag selbstverständlich sofort Regierungssprecher Steffen Seibert: „Das Ergebnis waren schändliche Bilder am Reichstag, die so nicht hinzunehmen sind: Antidemokraten, die sich auf den Stufen unseres demokratischen Parlaments breitzumachen versuchen.“

So einfach kann Merkels Regierung und der rot-rot-grüne Senat Berlins die breite Mehrheit der fast 40.000 friedlichen Demonstranten vom Wochenende zur öffentlichen Abschreckung pauschal in die rechte Ecke stellen.

Übrigens beweist das „nicht hinzunehmen“ wieder Merkels Demokratieverständnis gegenüber Andersdenkenden. Denn die Kanzlerin verurteilte rigoros während einer Auslandsreise in Südafrika die demokratische Wahl eines bürgerlichen FDP-Ministerpräsidenten mit Hilfe von AfD-Stimmen als „unverzeihlichen Vorgang“. Sie ordnete praktisch an, die Wahl müsse rückgängig gemacht werden. Wohl auch deswegen kann sich Seibert andere Fragen nicht stellen.

Warum Berliner Polizei, warum Herr Bundespräsident?

Dabei sind noch viele Fragen offen vor allem für Journalisten: Warum waren nur drei Beamte von der Berliner Polizeidirektion für die Sicherung der Volksvertretung angesichts einer Großdemonstration gegen die Bundespolitik abgestellt worden? Kann die Ausrede der Polizeibehörde in so einem Fall gelten, man brauchte die Kräfte an der russischen Botschaft? Denn das verursacht nur eine weitere Frage: Wollte die Polizeiführung womöglich einen Vorfall am Reichstag riskieren?

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Schließlich untersteht im rot-rot-grünen Senat die Polizeibehörde dem heutigen Innensenator und früheren SED-Mitglied Andreas Geisel (SPD). Immerhin hatte sich der Innensenator mit seinem angeordneten Demonstrationsverbot, das durch Schnellurteile gleich zweier Gerichtsinstanzen kläglich scheiterte, politisch bundesweit blamiert. Noch Fragen? Ja, bitte.

Warum lädt jetzt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) plötzlich diese drei Polizisten zum Empfang in seinen Amtssitz Schloss Bellevue ein? Während der seit 12. Februar 2017 amtierende Bundespräsident hart attackierte Polizisten und wahre Helden wie beim G-20-Gipfel am 7. Juli 2017 in Hamburg durch einen randalierenden, linksextremen Massenmob allein und links liegen ließ? Ebenso erging es den weitgehend alleingelassenen Polizisten in Stuttgart. Deren Führungskader sogar noch die Legende von der „Party- und Eventszene“ erfanden, nur um Migranten und Antifa-Anhänger nicht zu benennen.

Interessanterweise stützen sich staatstragende Medien wie die ARD-Tagesschau oder ZDF-heute bei Berichten über den Reichstagsprotest plötzlich auch auf Videomaterial sogenannter rechter Kreise. Üblich und glaubwürdig waren bisher bei vermeintlichen Menschjagden wie in Chemnitz Videos von linksradikalen Portalen wie „Antifa Zeckenbiss“, das wieder dabei ist. Auf diese höchst umstrittenen Videos aus dem linksextremen Lager berief sich sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für ihre verbreitete Behauptung in Chemnitz hätte es Hetzjagden auf Ausländer gegeben. Recherchen von Tichys Einblick hatten diese Kanzler-Legende widerlegt.

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