Noch steht das amtliche Endergebnis der Wahl in Berlin nicht fest. Die Ermittlung gestaltet sich aus stadtspezifischen Gründen etwas schwierig. In Lichtenberg fanden Wahlhelfer 466 Briefwahlstimmen, die am Sonntag und auch am Montag nicht ausgezählt wurden. Als das am Mittwoch nach der Wahl dann doch schon mit Berlingeschwindigkeit passierte, stellte sich eine Stimmengleichheit des CDU-Direktkandidaten und der Linkspartei-Direktbewerberin heraus. Zwischen beiden entscheidet demnächst das Los. Fällt es auf die Politikerin der Linkspartei, würde die CDU einen Sitz verlieren, was wiederum die Ausgleichsmandate verschieben würde. Kurzum: Ob innerhalb des „progressiven Lagers“ (Ricarda Lang) nun die SPD oder die Grünen vorn liegen, muss sich noch herausstellen.
Deutlich schneller fanden Politiker und Kommentatoren Erklärungen, wie es passieren konnte, dass im idealen progressiven Biotop der Republik die CDU zur stärksten politischen Kraft aufsteigen konnte. Die Karte der Hauptstadtstimmbezirke erinnert ein wenig an den sogenannten Berliner, einen Pfannkuchen mit Marmeladenfüllung, nur mit der Besonderheit eines schwarzen Äußeren – die Bezirke rund um das Zentrum – und einen grünen Klecks im Zentrum. Als kleine Zutat noch lila Flecken für Linkspartei-Direktmandat im Osten, und zwei blaue für die AfD, auch weit im Osten im Herzland der SED. Dafür machten die Vertreter des wohlgesinnten Zentrums zwei Gründe aus. Zum einen den, dass die Falschen überhaupt wählen durften, die Randständigen, die Ungebildeten und Alten, kurz, der basket of deplorables (Hillary Clinton), der Korb der Erbärmlichen also.
Und zum zweiten, dass andere nicht mitwählen durften, nämlich Berlinbewohner ohne deutschen Pass (wobei diejenigen, die das beklagen, sich noch bitter über die Fortschrittsfreundlichkeit vieler nichtdeutscher Berliner täuschen könnten).
Würden nur die richtigen an die Urne gelassen, so die Zusammenfassung, dann käme auch das Richtige für die Stadt heraus. Und nicht nur für diese Stadt. Die demonstrative Verachtung des progressiven Gesellschaftszentrums für die Peripherie findet sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, den USA und anderen westlichen Ländern, und das nicht erst seit gestern. Hillary Clintons Bemerkung über den Korb der Erbärmlichen stammt bekanntlich von 2016. Im Fall Berlins zeigt es sich nur besonders unverblümt.
Die Kolumnistin beim RBB-Radio 1 Lea Streisand etwa erkennt in dem breiten nichtgrünen Ring um die zentralen Stadtteile „den Hass alter Autofahrer am Stadtrand auf Kinder, die sich aus Angst vor der Zukunft auf der Straße festkleben“.
Von der Teilung in alte Hasser dort und junge Zukunftsbesorgte da – deren gar nicht mehr so jungen führenden Kader via „Wandelbündnis“ und „Climate Emergency Fund“ übrigens auf großzügige Spenden von Aileen Getty, 65, zurückgreifen können –, von dieser Teilung jedenfalls führt der nächste logische Schritt zu der Forderung, nicht mehr jeden wählen zu lassen. Die grüne Münchner IT-Beauftragte Laura Dornheim etwa meint: „Ich wünschte, es dürften die über die Zukunft bestimmen, die sie erleben werden.“
Mitbestimmen dürfen sie jetzt schon. Zwischen ‚mit-‘ und ‚bestimmen‘ liegt eben ein feiner, aber entscheidender Unterschied. Ein Medienschaffender, der in der Vergangenheit auch vom ZDF und aus Filmfördermitteln Geld bekam, erklärt das Problem der falsch wählenden und überhaupt falsch lebenden Gesellschaftsangehörigen schon etwas deutlicher.
Ihnen folgen die Fußtruppen mit Twitter-XYZ-Prominenz, die schon ausgefeilte Pläne vorlegen, wie man die nicht ausreichend transformationsbegeisterten Älteren von Wahlen ausschließen oder zumindest ein abgestuftes Altersklassenwahlrecht einführen könnte, oder zumindest Begleitstimmung dafür verbreiten.
Der eigentliche Grund dafür, Peripheriebewohnern, die nicht durchs gentrifizierte Viertel ins Büro radeln oder gleich von zu Hause aus arbeiten, das Wahlrecht zu beschneiden, lautet natürlich: Sie stimmen falsch ab, und in fünf Jahren könnte dies das progressive Lager selbst in Berlin die Mehrheit kosten. Angehörige des wohlmeinenden Milieus sprechen allerdings nur ungern von ihren eigenen Klasseninteressen. Sie verwenden deshalb viel Mühe darauf, alles, was sie fordern, in Geschenkpapier zu verpacken, auf dem etwas von Allgemeinwohl steht. In diesem Fall erklärt die Aufschrift, dass es sich bei Verkehrtwählenden erstens, siehe oben, um egoistische Zukunftsverderber handelt. Und zweitens um dumme Menschen, was durch den scheinobjektiven Begriff ‚wenig gebildet‘ ausgedrückt werden soll. Egoisten und Dumme aus der Gesellschaft zu drängen, damit sie den Altruisten und Klugen nicht mehr in den Arm fallen, das, so lautet die zusammengefasste Botschaft, liegt im objektiven Gesellschaftsinteresse.
„Die Alten werden geschlachtet/die Welt wird jung/Die Feinde werden geschlachtet/die Welt wird freundlich/Die Bösen werden geschlachtet/die Welt wird gut“, dichtete Erich Fried 1957 in der Absicht, totalitäre Reinigungsfantasien zu beschreiben. Die Kämpfer aus den zentralen Vierteln verstehen Frieds Zeilen eher als Rezept, auch wenn es bei ihnen nicht gleich ums Schlachten geht (ohne die Rückständigen vom Rand würde nämlich eine ganze Menge Arbeit liegenbleiben), sondern nur um die Neukalibrierung von Bürgerrechten. Das Argument der Dummheit beziehungsweise des Bildungsmangels leiten die Befürworter einer neuen Klassengesellschaft aus Statistiken über den Bildungsgrad von Wählern ab.
Die sagt allerdings – auch wenn die Tagesschau es falsch auf ihre Social-Media-Kachel schreibt – nur etwas über den formalen Bildungsabschluss aus, und nichts über die Bildung. Die dünkelhafte Ansicht findet sich zwar öfters in Berlin und anderswo, ein Critical-Race-Theoretiker mit Abitur und Bachelorabschluss in Friedrichshain müsste unter allen Umständen gebildeter sein als ein Handwerker in Köpenick. Sie stimmt trotzdem nicht. Falls der Progressive es nicht schafft, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem Politikbetrieb, einer steuergeldfinanzierten Agentur oder wenigstens in der bezahlten Riege der „Letzten Generation“ unterzukommen, kann es ihm sogar materiell deutlich schlechter gehen als dem Handwerksmeister weiter draußen, der dann immerhin mit seinen Steuern noch für das Bürgergeld der Erwachten und Erwählten aufkommt und für das Gehalt der anderen sowieso. Schon um diese Schmach zu tilgen, dass eine sehr einseitige Abhängigkeit zwischen Zentrum und Außenbezirken besteht, muss dieses Milieu auf die bildungsfernen Egoisten herabblicken.
Es ist bemerkenswert, wie leicht sich die Kaste der Wohlmeinenden von dem demokratischen Prinzip verabschiedet, dass jede Stimme gleich zählen sollte. Aber es fügt sich in ein Gesamtbild. In der Corona-Zeit prägten die gleichen Diskursmeister bekanntlich den Begriff des ‚vulgären Freiheitsgefühls‘ für alle, die auf Grundrechte pochten, bei denen es sich nun einmal um Individualrechte handelt. Ihr Gegenentwurf der ‚verantwortlichen Freiheit‘ lief darauf hinaus, sich zugunsten eines von ihnen definierten Gemeinwohls allen möglichen Einschränkungen zu unterwerfen.
In der gleichen Gesellschaftsschicht gilt es mittlerweile auch als akzeptable Ansicht, Meinungsfreiheit dürfte nur noch für die Richtigen gelten, und bräuchte deshalb eine strenge Regulierung. Als Elon Musk im vergangenen Jahr bei seiner Übernahme von Twitter ankündigte, dort in Zukunft die Grenzen der Redefreiheit zu erweitern – ungefähr so, wie die amerikanische Verfassung sie zieht –, gab es bekanntlich mediale Entsetzensrufe in den USA und Deutschland.
Zur Überzeugung, der Durchsetzung des Richtigen und Guten dürften Individualrechte und Meinungsfreiheit nicht im Weg stehen, passt auch die Überlegung sehr gut, nicht mehr jedem die gleiche Wahlstimme zuzubilligen. Politische Vorstellungen fließen heute sehr flott von Twitter in die Medien und von dort in die professionelle Politik, und das umso leichter, wenn sich schon auf Twitter Politiker und Meinungsschaffende an einer Kampagne beteiligen.
Ganz so schnell dürfte die Beschneidung des Wahlrechts allerdings nicht kommen, denn noch gibt es bei jedem Vorschlag aus dem progressiven Lager Gegenwind von ebenjenen schlechtgebildeten Egoisten weit draußen und außerdem von randständigen Publizisten in den Ecken des Internets, die unverantwortlich mit der Meinungsfreiheit umgehen. Diese Kräfte hätten dann wahrscheinlich nichts Besseres zu tun, als eine alternative Einschränkung des Wahlrechts vorzuschlagen, beispielsweise nach Steuerzahlung, am besten in drei Klassen, wobei natürlich alle ausgeschlossen wären, die keine echten Steuern abführen, weil sie direkt oder indirekt von Staatsgeld leben. So eine Reform würde die Wahlbezirkskarten in Berlin und anderswo natürlich noch ganz anders einfärben.
Wie schon Lenin und andere Transformationsspezialisten wussten, muss notfalls ein Zwischenschritt her, um ein bestimmtes Fernziel zu erreichen. Womit wir wieder zu der medial umfangreich begleiteten „Letzten Generation“ kommen.
Dieser Stoßtrupp fordert bekanntlich unter anderem die Einberufung eines „gelosten Gesellschaftsrats“, der künftig – erst einmal in nicht näher beschriebener Weise neben den Parlamenten – Entscheidungen fällen soll. Wer sich die Forderung näher anschaut, merkt schnell, dass dabei kaum etwas dem Zufall überlassen bleiben soll, auch wenn sich ‚Losverfahren‘ erst einmal danach anhört. Denn die Ausgelosten sollen von Experten „mit Wissen versorgt“ und von anderen Figuren professionell angeleitet werden. Über den Modus der Expertenauswahl spricht die „Letzte Generation“ nicht.
Das Losen eröffnet außerdem viele Möglichkeiten. Der eine oder andere denkt hier vielleicht an die in Straßenumfragen öffentlich-rechtlicher Sender, bei denen zufällig immer wieder Grünen-Parteimitglieder vor die Kamera laufen. Die Idee eines nicht gewählten Rates, der Entscheidungen trifft, stammt nicht exklusiv aus dem Fundus der „Letzten Generation“ oder von „Fridays for Future“, die sie auch seit längerem vertritt. Sondern direkt aus dem Berliner Politikbetrieb. Schon im Jahr 2020 schlug der vom Bundesumweltministerium berufene Sachverständigenrat für Umweltfragen einen von den Bundestagsfraktionen beschickten „Rat für Generationengerechtigkeit“ vor, der das Recht bekommen sollte, in Gesetzgebungsverfahren einzugreifen, vor allem aber, wie es in dem Papier hieß, Druck auf die Abgeordneten auszuüben:
„Bereits die Androhung eines Vetos im laufenden Gesetzgebungsverfahren dürfte regelmäßig zu Änderungen des Gesetzesvorhabens führen […] Soweit jedoch die schwerwiegenden Bedenken dadurch nicht ausgeräumt werden können, sollte der Rat unter den hier skizzierten Voraussetzungen zur Einlegung eines suspensiven Vetos befugt sein. Die Wirkung des suspensiven Vetos ist vorwiegend politischer Art. Aufgrund der Außergewöhnlichkeit des Vorgangs würde ein Veto des Rates für Generationengerechtigkeit in den Medien ein Echo hervorrufen und die breite öffentliche Aufmerksamkeit auf den Sachverhalt lenken. Die politischen Entscheidungsträger gerieten unter Druck, sich gezielt mit den langfristigen Folgen des Gesetzes und seiner Auswirkungen auf die künftigen Generationen zu beschäftigen.“
Ein einziges Mitglied des Sachverständigenrates wandte sich damals öffentlich gegen diesen Vorschlag und nannte ihn verfassungswidrig: die Bauwissenschaftlerin Lamia Messari-Becker. Die damalige Bundesumweltministerin Svenja Schulze löste das Problem, indem sie Messari-Becker nicht wieder in den Rat berief. Der Zwischenschritt, zu dem es schon ziemlich bald kommen könnte, würde so aussehen: Wenn es sich nicht sofort verhindern lässt, dass bei Wahlen auch die Falschen abstimmen, kann erst einmal die Zuständigkeit des Parlaments beschnitten werden.
Wer die einzelnen Erscheinungen zusammenzählt, dem muss auffallen, wie sehr dem progressiven Lager im Zentrum praktisch alles als lästiges Relikt gilt, was aus der bürgerlichen Epoche des Westens stammt: Abwehrrechte gegen den Staat, Redefreiheit, Parlamentarismus, gleiches Gewicht der Stimmen. Hier steht ein Gesellschaftsmodell unversöhnlich gegen ein anderes. Die meisten Wohlgesinnten wissen das auch. Viele Bürger nicht unbedingt. Sie glauben, mit Demokratiedelegitimierern handeln zu können, die sich für Kompromisse nicht interessieren. Dass Leute, die eine neue Feudalordnung mit ihnen selbst in der Position von Priesterfürsten anstreben, nichts davon halten, dass Hinz und Kunz über die gleiche Stimme verfügen wie sie selbst, liegt nun wirklich auf der Hand.
In Deutschland und anderswo im Westen findet ein Klassenkampf von oben statt, geführt von ohnehin schon Privilegierten, die sich mit halben Sachen nicht zufriedengeben. Ihre Wunschgesellschaft, beispielsweise vorgetragen von Katja Diehl, die wiederum im Beirat des grünen Verkehrsministers von Baden-Württemberg sitzt, lässt sich auch unmöglich unter den Bedingungen einer bürgerlichen Ordnung durchsetzen, in der sich ein Einzelner mit seiner Stimme und anderen Möglichkeiten wehren kann.
Ihren Klassenkampf führen die Progressisten konsequent von oben nach unten und aus den Zentren gegen die Peripherie. Und sie kommen damit exakt so weit, wie die Bürgerlichen das zulassen.