Tichys Einblick
Echo der Geschichte hallt

Der Journalismus des neuen Typs und seine Freunde in Faeserland

Es ist keine Mehrheit – aber bestimmte Milieus haben offenbar beschlossen, autoritär zu bestimmen, was Realität ist. Ein Blick in die Geschichte ist dringend nötig: Was wir erleben, ist zwar keine Wiederholung der Vergangenheit. Aber ihr Echo.

IMAGO

Um den Journalismus der Zukunft zu besichtigen, muss niemand die Gegenwart verlassen. Es gibt Plattformen, die schon jetzt alles verkörpern, was den schrumpfenden Medienbereich aller Voraussicht nach in wenigen Jahren als Ganzes auszeichnen wird. Die Avantgarde befindet sich per Definition immer schon dort, wohin andere erst nachlaufen müssen.

Innerhalb dieser Fortschrittsspitze im Bereich Überzeugungsproduktion wiederum steht Correctiv derzeit so weit vorn wie keine andere Organisation der Branche. Bekanntlich berichtete das Medienunternehmen über eine Zusammenkunft von 25 Personen im Hotel „Landhaus Adlon“, die am 25. November 2023 stattfand – übrigens bei laufendem Hotelbetrieb – und bezeichnete die Veranstaltung als „Geheimtreffen“; im Einzelnen schrieb die Plattform von einem dort erörterten „Geheimplan“ zur massenhaften Vertreibung von Migranten mit deutscher Staatsbürgerschaft, belegte die Behauptung allerdings nicht mit konkreten Zitaten.

Der „Geheimplan“ stellte sich als Vorstellung des seit Monaten bekannten Buchs „Regime change von rechts“ heraus. Zum Zweck der Skandalisierung fügte Correctiv ohne sachlichen Zusammenhang eine Passage über die Pläne der Nationalsozialisten ein, deutsche Juden nach Madagaskar zu deportieren, und stellte außerdem fest, dass acht Kilometer Luftlinie nördlich des Potsdamer Hotels die Gedenkstätte für die Wannseekonferenz liegt, auf der Funktionäre des NS-Staates im Januar 1942 über die effizientere Organisation des damals schon begonnenen Holocausts berieten.

Keine drei Wochen nach der Veröffentlichung behauptete die stellvertretende Correctiv-Chefredakteurin Anette Dowideit im ARD-Presseclub, in dem Artikel sei das Wort „Deportation“ gar nicht gefallen. Unmittelbar danach putzte das Medienunternehmen über Nacht seinen Internetauftritt durch; irgendjemandem im Unternehmen war offenbar aufgefallen, dass Correctiv den angeblich gar nicht verwendeten Begriff „Deportation“ in Bezug auf das Potsdamer Treffen bis dahin sogar zur Werbung für sein Buch „Der AfD-Komplex“ benutzte. Insgesamt gab es sogar zwei Schnellsäuberungsdurchgänge, bis der Text wieder passte.

Bei ihrem Presseclub-Auftritt erklärte Dowideit außerdem: „Wir werden nicht von der Regierung bezahlt.“ Was insofern stimmt, als das öffentliche Geld für Correctiv von den Steuerzahlern stammt, allerdings weitergeleitet von der Bundesregierung und ihren Institutionen. Im Jahr 2023 erhielt Correctiv insgesamt 431.059,85 Euro aus der Bundeskasse, außerdem 145.338 Euro von der Landeshauptkasse Nordrhein-Westfalen. Hinter den Sammelüberweisungen verbergen sich verschiedene Töpfe des Bundes und des Landes, die Correctiv nicht einzeln ausweist. Aus dem Etat der Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth flossen 2022 insgesamt 198.500 Euro an Correctiv; seit seiner Gründung im Jahr 2014 kassierte die Plattform insgesamt gut 2,5 Millionen Euro aus öffentlichen Quellen.

Die Zahlen lassen sich ohne größere Mühe zusammensuchen. Trotzdem gibt es im deutschsprachigen Raum nur eine sehr begrenzte Anzahl von Medien, die das auch tun, um das Ergebnis dann ohne Polemik aufzulisten, beispielsweise hier. Mangels Handhabe ging niemand rechtlich gegen die Veröffentlichung vor. Allerdings bemühte sich am 28. Januar 2024 ein Anonymus über Google erfolgreich um die Entfernung des Beitrags aus den Suchergebnissen (mittlerweile wieder in den Suchergebnissen zu finden).

Apropos Suchergebnisse: Correctiv, eine Plattform, die nach eigener Auskunft „Recherchen für die Gesellschaft“ unter dem Motto „wir fremdeln mit der Macht“ betreibt, kann auf eine beeindruckende Serie von Faktenchecks und Narrativbestätigungen zurückblicken. Die rechtsradikale Unterwanderung der Bauernproteste gegen die Ampel etwa belegte die Medienplattform kürzlich mit anonymen Wortmeldungen in Telegram-Gruppen, aus denen hervorgeht, dass Nachrichtenschreiber mit den Traktordemonstrationen sympathisieren. Außerdem wies Correctiv darauf hin, dass zwei eigens ausgesuchte akademische Stichwortgeber dem Geraune wenigstens nicht widersprechen: „Fragt man die Soziologin Peuker und den Protestforscher Anderl, ob sie glauben, die Bauernproteste seien unterwandert oder würden instrumentalisiert, dann sagt keiner von beiden ‚Nein‘.“

Vor der Bundestagswahl 2021 veröffentlichte das Medium eine im Faktencheck-Stil aufgebaute Entscheidungshilfe, in der es beispielsweise über Atomkraft hieß: „Die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, wie schwer ein Kernkraftwerk zu kontrollieren ist. Außerdem ist Atomstrom zwar klimaneutral, aber keinesfalls billig: Fairerweise müsste man nämlich die Entsorgungskosten in den Preis einrechnen.“ In Wirklichkeit geriet weder beim Unfall von Tschernobyl noch dem von Fukushima der Normalbetrieb außer Kontrolle; in Tschernobyl lief ein riskantes Experiment aus dem Ruder, in Japan traf bekanntlich ein Tsunami die Anlage (wobei es keine Todesopfer gab). Und fairerweise müsste man natürlich auch die Entsorgungs- und vor allem die Systemkosten der Wind- und Solarenergie einrechnen, um zu einem einigermaßen seriösen Vergleich zu kommen.

Ebenfalls im Bundestagswahlkampf 2021 stellten die Faktenprüfer aus Essen zur Vita der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock fest: „Zwar wurden mehrfach Änderungen an Baerbocks Lebenslauf vorgenommen, doch als ‚schummeln‘ lässt sich das nicht bezeichnen.“ Dabei wären noch ganz andere Bezeichnungen als „schummeln“ angebracht: Auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung hieß es damals, sie hätte in Hamburg einen Bachelor in Politikwissenschaften erworben. Tatsächlich verließ Baerbock die Universität ohne Abschluss. Ursprünglich behauptete sie außerdem, ihre Promotion würde „ruhen“. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Promotionsversuch bei der Böll-Stiftung schon offiziell beendet. Ob sie bis dahin überhaupt etwas abgeliefert hatte, lässt sich nicht rekonstruieren, da die parteinahe Stiftung alle Unterlagen dazu entsorgte.

Im gleichen Jahr behauptete Correctiv, unerwünschte Spätfolgen der Corona-Impfung seien „unwahrscheinlich“.

Über mögliche Spätfolgen konnte damals, als die Impfkampagne begann, objektiv noch niemand Bescheid wissen. Heute gilt das sogenannte Post-Vac-Syndrom als anerkannte Langzeitfolge, inzwischen steht auch fest, dass einige Impfstoffchargen Verunreinigungen mit bakterieller Plasmid-DNA enthielten und möglicherweise immer noch enthalten. Wissenschaftler, die sich dem Thema Langzeitfolgen widmen, betonen immer wieder die Notwendigkeit weiterer Forschungen.

Die Correctiv-Mitarbeiter machten also zu einem Zeitpunkt, da sich die Regierung, um ihren Vizekanzler zu zitieren, von der Realität umzingelt sah, aus einer kleinen Runde einflussloser rechtsstehender Privatleute eine neue Wannseekonferenz, aber eben nicht nur das. Egal, welches Thema sie abhakten: Bauenrproteste (rechte Umtriebe), Atomkraft (zu gefährlich und teuer), Baerbocks Außendarstellung (nicht ganz fehlerfrei, aber seriös), Corona-Vakzin (unbedenklich); in jedem Fall ergaben ihre Recherchen für die Gesellschaft genau das, was jeweils der Regierungslinie beziehungsweise den Wünschen der wahlkämpfenden Grünen entsprach. Von Zeiten der Merkel-Regierung bis zur Gegenwart trafen sich Correctiv-Vertreter gut ein Dutzend Mal mit Regierungsvertretern, darunter mit Claudia Roths Staatssekretär Andreas Görgen, Regierungssprecher Steffen Hebestreit und Bundeskanzler Scholz, allerdings nicht, um Görgen zu dessen Unterstützung für die israelfeindliche Boykottbewegung BDS und Scholz zu möglichen Dienstleistungen für die Warburg-Bank zu befragen, sondern, um intern etwas zu besprechen. Im Umfeld dieser Geheimtreffen baute niemand heimlich Kameras und Mikrofone auf.

Zu diesem Mosaik mit bekannten und weniger bekannten Teilen gehört auch die Zweckbestimmung, mit der die Luminate-Stiftung des Milliardärs Pierre Omidyar – neben dem Staat der zweite große Correctiv-Gönner – allein 2022 eine halbe Million Dollar gab: „To investigate Gemany’s injustices and abuses of power“. Kritisch würde Correctiv wahrscheinlich irgendeiner Macht erst dann auf die Hände schauen, wenn sich darin kein Überweisungsbeleg befindet.

Wer noch Uraltvorstellungen von der Vierten Gewalt nachhängt, einen kurzen Blick auf die Correctiv-Historie wirft und obendrein registriert, wie eine führende Vertreterin dieser Plattform öffentlich behauptet, sie bekämen überhaupt kein Regierungsgeld, während die letzten paar hunderttausend Steuereuros noch in der Kollekte nachklingeln, wer also das ganze Bild in ausreichender Tiefenschärfe wahrnimmt, der könnte das Gebilde vermutlich als PR-Agentur, Regierungsaußenstelle, Hilfsorganisation für Progressisten in Not oder Narrativmühle bezeichnen, als älterer Ostdeutscher vielleicht auch sagen: So etwas hatten wir damals auch, es hieß aber nicht Correctiv – unter keinen Umständen aber würde jemand mit intakten Koordinaten dieses Etwas ‚Medium‘ im herkömmlichen Sinn nennen.

Es gibt aber – und darin liegt eine gesellschaftsverändernde Kraft – eine ganze Reihe von Blättern und Magazinen, die in einer Arbeit nach Correctiv-Methoden kein Problem sehen, sondern ein Vorbild. In erster Linie deshalb, weil die Kollegen über eine solidere Finanzierung verfügen als der eigene Laden, der sich damit abmüht, sein Geld noch ganz traditionell von den Empfängern der Botschaft zu bekommen.

Der Gründer einer anderen Plattform, die in der Avantgardespitze gleich hinter Correctiv folgt, fordert in einem von der taz veröffentlichten Manifest alle Journalisten guten Willens auf, sich konsequenterweise endlich ganz und gar von der Faktenebene zu lösen, die er für den Urgrund der Branchenprobleme hält.

In dieser Grundsatzerklärung stellt Thomas Laschyk, Betreiber der Seite „Volksverpetzer“, unter anderem fest: „Es kann so nicht weitergehen.“ Womit er recht hat, es bricht wirklich eine neue Ära an. „Entgegen der versessenen Kritik von rechts, dass unser Journalismus nicht ‚neutral“‘ nicht ‚kritisch‘ oder nicht ‚ausgewogen‘ genug sei, zu ‚aktivistisch‘, zu ‚meinungslastig‘, kommt ein nüchterner und wissenschaftsbasierter Blick zum gegenteiligen Ergebnis“, schreibt der Zukunftsjournalist: „Wir wollen nicht übertreiben, wir wollen seriös und sachlich sein. Und darum verlieren wir gerade gegen sie. […] Wir diskutieren mit, was wahr ist und was nicht. Das lähmt den Prozess der demokratischen Meinungsfindung.“

Für das Anliegen, die Lähmungen und Hemmungen bei der Meinungserzeugung durch Restbestände von Wirklichkeitsbezug und Regeln endlich ein für alle Mal zu überwinden, setzt sich auch eine ehemalige Mitarbeiterin des WDR ein. Sie twittert dankenswerterweise heraus, was andere nur denken und tun.

Screenprint via X (Twitter)

Über diese Medienschaffenden hinaus existiert ein gar nicht so kleines Milieu von Leuten, die sich schon jetzt von den Fakten- und Logiklöchern in der Wannsee-2.0-Geschichte weder lähmen noch irritieren lassen, die überhaupt keinen Anstoß an der Staatsfinanzierung von Correctiv nehmen, und die es in ihrer Haltung auch kein bisschen erschüttern würde, falls sich auch die wenigen faktischen Behauptungen in der Geschichte über das Potsdam-Treffen vor Gericht als reine Erfindungen herausstellen sollten. Für diesen Typus trifft die Diagnose ‚kognitive Dissonanz‘ nicht zu. Sie erkennen sehr wohl, dass bei Correctiv keine unabhängigen Journalisten an Recherchen für die Gesellschaft arbeiten, so wie sie auch wissen, dass es sich bei den ‚Gegen- rechts‘-Massenkundgebungen draußen auf den Plätzen um keine spontane Artikulation der gesellschaftlichen Mitte handelt. Es kümmert sie nicht.

Ihrer Ansicht nach sollten alle Medien mit Ausnahme der paar Unverbesserlichen so arbeiten wie Correctiv. Gesellschaftspolitik sollte in ihren Augen grundsätzlich mit Großdemonstrationen betrieben werden, die sich nicht gegen die Inhaber von Regierungsmacht richten, sondern gegen Bürger mit falschem Bewusstsein.

Demokratie verwirklicht sich nach ihrem Verständnis in einem extrabreiten Unterhakbündnis, ihre Sternstunde schlägt, wenn sich auf der größten Freifläche der Stadt unter regem Zuspruch von staatsnahen Medien und Regierungspolitikern illuminierte Menschenblöcke formieren.

Wer so denkt, dem fällt noch nicht einmal die totalitäre Ästhetik dieser Demokratierettung auf. Zumindest nicht negativ. Er bejaht sie. Es entwickelt sich gerade ein neuer Typus zur gesellschaftlichen Leitfigur, der die Entkernung herkömmlicher Begriffe, Manipulationen, Verdrehungen, Lügen und Drohungen gegen Abweichler nicht als störend empfindet, sondern als Fortschritt hin zu einer höheren Entwicklungsstufe.

Ohne diese Unterstützungsfront wäre es gar nicht möglich, dass sich die oben beschriebenen und im Bild festgehaltenen Marschblöcke von Leuten bilden, die vielleicht nicht selbst glauben, aber es anderen erklären, sie würden den schon halb herrschenden Faschismus niederkämpfen, während zur gleichen Zeit ganz ähnlich missionsdurchglühte Gruppen an der Humboldt-Universität eine Veranstaltung sprengen, weil dort auf dem Podium eine oberste Richterin aus Israel saß oder die im Kunstmuseum Hamburger Bahnhof eine Lesung aus Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge des Totalitarismus“ niederbrüllen, ohne damit große Protestdemonstrationen oder überhaupt nur ein Echo im Milieu der Sophie-Scholl-Avatare auszulösen.

Zur gleichen Zeit, in der die Innenministerin, Vertreter von Staatsgeldempfängerorganisationen und Journalisten der Zukunft umfangreiche staatliche Maßnahmen gegen alle fordern, die sich ihnen nicht anschließen wollen, kann der Präsident der FU Berlin Günter Ziegler erklären, nachdem ein jüdischer Student seiner Hochschule von einem antisemitischen Kommilitonen krankenhausreif geprügelt wurde, es sei nicht möglich, den Täter zu exmatrikulieren, und überhaupt könnte man diese Art Judenfeindlichkeit nicht „primär mit Sanktionen“ verhindern. Stattdessen plädiert er dafür, den „von Antisemitismus Betroffenen“ künftig einen Betreuer an die Seite zu stellen.

Diese Gleichzeitigkeit der Ereignisse schafft gerade eine neue Art der Öffentlichkeit. Im gleichen Moment, in dem eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt Tausende in ihrem eigentlich therapiebedürftigen Ich-bin-Sophie-Scholl-Gefühl bestärkt, kann der Juso-Chef Philipp Türmer fordern, „reichen Schmarotzern“ endlich an den Kragen zu gehen, also eine wirklich lupenreine NS-Wendung benutzen, ohne damit irgendwelche negativen Reaktionen hervorzurufen.

Jemand, der eben noch twittert, dass es sich bei AfD-Wählern um ein „Krebsgeschwür im deutschen Volk“ handelt, erlebt in dieser neuen Öffentlichkeit abends zusammen mit vielen anderen beim Handyschwingen gegen den Faschismus seinen gar nicht mehr so ganz inneren Reichsparteitag.

Das alles ist möglich, weil Journalisten der Zukunft Hand in Hand mit Politikern des neuen Typs den Weg freimachen, auf dem ihnen zwar keine Mehrheit folgt, aber immerhin ein Teil der Gesellschaft. Unter vorgestrigen Umständen wäre das Treffen von 25 Unprominenten in Potsdam eine Fußnote, der Amoklauf von Lisa Paus und Nancy Faeser gegen den Rechtsstaat würde dagegen zu Rücktrittsforderungen gegen die Ministerinnen quer durch die altmodischen Medien führen, vielleicht auch zu Protest auf der Straße. Um Bertolt Brecht zu zitieren: „Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so“.

Diese Verhältnisse entstanden nicht spontan.

Zwei berühmte Sätze von Hannah Arendt, die sich heute noch unter der Lisa-Paus-Strafbarkeitsgrenze bewegen, aber vielleicht schon für die Aufnahme in ein Meldeportal reichen würden, lauten: „Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust der Wirklichkeit. Wenn der Widerstand der Realität fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.“ Der Realitätswiderstand verschwindet natürlich nicht objektiv. Aber, und darauf läuft die Bemerkung Arendts hinaus, eine größere Gruppe in der Gesellschaft spürt ihn nicht mehr, weil ihr dafür das nötige Sensorium fehlt.

Dieser Realitätsverlust, diese totale Entwirklichung der öffentlichen Sphäre gab es vor einigen Jahrzehnten schon einmal auf deutschem Boden. In der herrschenden Partei der Arbeiterklasse gab es dort so gut wie keine Arbeiter, bei dem, was sich Gewerkschaft nannte, handelte es sich um keine Gewerkschaft, bei den Zeitungen nicht um Medien. Nach der Teilung der Stadt 1948 standen an der damals noch offenen Grenze Schilder mit der Aufschrift: „Sie verlassen den demokratischen Sektor“. Damit meinte die SED den von ihr beherrschten Stadtteil, im Gegensatz zu der düsteren Diktatur auf der anderen Seite. Das wachturmbestückte Bauwerk, das die eigene Bevölkerung einsperrte, hieß bekanntlich ‚Antifaschistischer Schutzwall‘ (die Selbstschussanlagen SM-70 an der Mauer gingen übrigens auf eine Entwicklung aus dem Reichssicherheitshauptamt, Referat II D 4, zurück, die damals zur besseren Absicherung von Konzentrationslagern gegen Häftlingsflucht gedacht war). Kein offizieller Begriff in diesem Land besaß noch seinen eigentlichen Sinn, ihre Kommunikationsexperten schafften es, jede Bedeutung zu verbiegen. Die Verantwortlichen hielten das Lügenkombinat nur dadurch zusammen, dass sie jedem mit schweren Konsequenzen drohten, der auf die offensichtliche Tiefenverlogenheit hinwies. Als diese Drohung im Herbst 1989 nicht mehr genügend Bürger abschreckte, fiel es innerhalb weniger Wochen auseinander.

Diese Art der Entwirklichung entsteht nicht erst in totalitären Staaten. Arendt diagnostizierte den Wirklichkeitsverlust, ja die Realitätsaversion schon für die späte Weimarer Republik. Die Teilnehmer der Wir-sind-Weiße-Rose-Festspiele weisen immer wieder auf die angeblichen Parallelen zu 1933 und den Jahren davor hin. Wären sie halbwegs geschichtskundig, würden ihnen zwar keine Parallelen, aber Ähnlichkeiten auffallen, nur eben ganz andere, als sie meinen. Die Nationalsozialisten konnten zur stärksten Partei aufsteigen, weil erstens eine tiefe Wirtschaftskrise herrschte, der die Reichsregierungen kaum etwas entgegensetzten, zweitens, weil diese Regierungen schon ab 1930 nur noch mit Notverordnungen wirtschafteten und politische Debatten sich mehr und mehr vom Parlament auf die Straßen verlagerten, drittens, weil die radikalen Linken der KPD und ihre Anhänger nicht, wie sie vorgaben, ‚gegen den Faschismus‘ kämpften, sondern gegen die Institutionen der auch bei ihnen verhassten Republik. Und schließlich, weil viele Konservative es für eine gute Idee hielten, die Extremisten der NSDAP für den Kampf gegen die Extremisten der KPD einzuspannen. Geschehen konnte das alles in einer Atmosphäre der Entwirklichung, in der ein großer Teil der Gesellschaft Zwecklügen, Begriffsverdrehungen und Drohungen nicht nur für notwendige Übel hielt, sondern für den Ausdruck eines höheren Bewusstseins.

In der Gegenwart erleben wir keine Wiederholung, aber ein Echo. Eine Regierung, die den Wirtschaftsniedergang noch beschleunigt, den Ersatz von Politik durch öffentliche Aufmärsche, Kabinettsmitglieder, die glauben, das Land durch den Abbau von Grundrechten zu stabilisieren, und alles in allem Politiker, die in einer Sorte von Extremisten brauchbare Verbündete zur Durchsetzung der eigenen Ziele sehen.

Heute würde es schon genügen, wenn eine Mehrheit offen ausspricht, dass die größte Bedrohung für die Demokratie von vorgeblichen Demokratieschützern wie Lisa Paus, Nancy Faeser, Thomas Haldenwang und anderen ausgeht. Wenn sie es sagt, auch wenn sie davon in den meisten Medien nichts liest; in Medien, die diesen Satz auch nie schreiben würden, weil sie sich längst an der Avantgarde orientieren.

Es gibt einen anderen, noch berühmteren Satz von Hannah Arendt: „Verstehen heißt immer verstehen, was auf dem Spiel steht.“

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