An wenigen Tagen im Jahr wird so viel geschwindelt wie am Morgen des 1. Mai: Da steht der Bezirks-Pressesprecher auf dem Festplatz und zählt die Teilnehmer der DGB-Kundgebung. Dann fasst er die Zahlen zusammen und legt sie dem Bezirkschef zur Freigabe vor. Am Ende geht alles nach Berlin, wo die Zentrale die gesamten Teilnehmerzahlen an die Presse weitergibt. Zwischendrin sind die Zahlen ein halbes Dutzend mal korrigiert worden. Jedes mal nach oben.
Der DGB ringt um Bedeutung. Schon seit Jahren. Da macht es sich nicht gut, wenn die Teilnehmerzahlen auf den Kundgebungen schlecht sind. Vor allem wenn der Maifeiertag auf einen Sonntag fällt – und nicht einmal für einen entfallenen Arbeitstag gut ist. Und der Gewerkschaftsbund hat es nötig, die Berechtigung seiner Existenz zu beweisen. Nach außen wie nach innen.
Dabei bräuchte das Jahr 2022 starke, funktionstüchtige und nicht selbstbezogene Gewerkschaften: Die Inflation frisst die Einkommen auf. Durch die Pandemie-Politik ist mancher Arbeitsplatz gefährdet oder gleich verloren gegangen. Außerdem gefährden fehlende Energie-Sicherheit oder explodierende Kosten für Rente oder Pflege den Wohlstand der Arbeitnehmer. Denen von ihrem Lohn ohnehin so wenig übrigbleibt wie in kaum einem anderen OSZE-Land.
Was hat der scheidende DGB-Boss Reiner Hoffmann (SPD) in der Situation beizusteuern? Im Tagesspiegel warnt er vor einer Rezession in Europa. So wie es jeden Tag irgendein Experte tut. Vor der Inflation muss Hoffmann nicht warnen. Die ist schon da. Und während im Land der hohen Steuern und Abgaben der Staat an den steigenden Verbraucherpreisen mitverdient, stellt der DGB seinen Tag, den Maifeiertag, unter das Motto: „GeMAInsam Zukunft gestalten“. Ein Wortspiel. „Mai“ klingt wie das „mei“ in „gemeinsam“. Lustig. Brüller. Da hat sich der Kreativ-Workshop echt mal gelohnt.
Der DGB verliert an Relevanz. Arbeitsminister ist Hubertus Heil. Die Agentur für Arbeit leitet demnächst Andrea Nahles. Ihre Karrieren haben die beiden ihrer Mitgliedschaft in der SPD zu verdanken – das geht vielen DGB-Funktionären ähnlich. Und so ist vom Gewerkschaftsbund künftig kaum zu erwarten, dass ein Sozialdemokrat den anderen Sozialdemokraten kritisiert. Von Schritten in die richtige Richtung wird der DGB stattdessen sprechen, die aber nocht weitergehen müssen. Die Mahnung muss sein. Sie sieht nach Relevanz aus.
Die Ankündigung des DGB zum 1. Mai zeigt zudem ein anderes Problem auf. Da heißt es: „Die Arbeitswelt steht vor großen digitalen und ökologischen Aufgaben. Doch wir können sie mitbestimmen. Der Wandel muss aber gemeinsam mit den Beschäftigten gestaltet werden.“ Im Vordergrund stehen beim DGB Themen wie Klimaschutz, die in der politischen Blase dominieren, in denen hauptberufliche Gewerkschaftsfunktionäre leben. Doch das Kerngeschäft der Gewerkschaften ist der Aber-Satz, der nachgehängte, der mit der Beschäftigung: Wie viel verdiene ich? Was darf ich davon behalten und was kann ich mir davon kaufen? Wegen dieser Fragen zahlt der Arbeitnehmer seiner Gewerkschaft Beiträge. Engagiert er sich für den Klimaschutz, geht er zu FFF oder zum BUND oder zum Nabu oder zu Greenpeace – die Auswahl ist reichlich.
Folglich gehen dem DGB die Mitglieder verloren: 5,7 Millionen waren es laut Selbstauskunft zum Jahreswechsel. 200.000 Mitglieder weniger als noch vor der Pandemie. Nur noch jeder sechste Arbeitnehmer ist gewerkschaftlich organisiert. In den Zukunftsbranchen sind es eher weniger. Und vor allem die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi schiebt einen Wasserkopf an alten Mitgliedern vor sich her, die nicht mehr im Berufsleben stehen oder demnächst ausscheiden.
Für den DGB bedeutet das, dass er sich auch nach innen rechtfertigen muss. Wenn die Gewerkschaften Mitglieder verlieren, müssen sie sparen. Das werden sie lieber beim Dachverband tun als bei sich selbst. Der ist in erster Linie ihre politische Interessenvertretung, ihr Sprachrohr, ihr Lobbyist. Wenn der DGB nicht mehr leistet, als mit der SPD-Bundesregierung zu kuscheln, ist das eine Aufgabe, für die sich in den Einzelgewerkschaften auch Mitarbeiter finden, die das übernehmen. Ob es da reicht, die „Transformation“ mit klugen Worten zu begleiten, ist fraglich. Zumal in der Ukraine-Frage die DGB-Genossen zu den SPD-Genossen stehen – was in den Ortsgruppen nicht jeder Ehrenamtliche gut findet.
Der Wechsel an der Führung verspricht zudem keine Besserung. Hoffmann geht mit 66 Jahren in den Ruhestand. Der Bundeskongress wählt voraussichtlich diesen Mai Yasmin Fahimi zu seiner Nachfolgerin. Die Führungselite des Gewerkschaftsbundes wünscht sich, der DGB solle weiblicher werden – und jünger. Die 54-jährige Berufsfunktionärin soll das leisten. Jünger und weiblicher werden ist auch so ein Lieblingsthema in der Blase der Funktionäre. Zwei Drittel der Mitgliedsbeiträge kommen aber in der Realität von Männern.
Fahimi brach ein Studium der Elektrotechnik ab, ein Studium der Chemie schloss sie nach neun Jahren als Diplom-Chemikerin ab. Dann begann eine Karriere als Berufs-Funktionärin in SPD und DGB: Deren Höhepunkt waren zwei Jahre als Generalsekretärin der SPD, in denen sie sich dafür aussprach, in Thüringen als Juniorpartner der Linken in die Regierung einzusteigen. Von 2011 bis 2014 war Fahimi geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Vereins „Innovationsforum Energiewende“, der von der Chemie-Gewerkschaft IG BCE getragen wird. An der Kommentierung der Klimaschutz-Politik ist sie also näher dran als an der Mehrung des Wohlstands der DGB-Mitglieder – oder wenigstens seines Erhaltes.
Doch Gewerkschaften werden gebraucht. Deswegen sollten sich die Mitglieder nicht fragen, was ihre Gewerkschaft für sie tun kann, sondern was sie für ihre Gewerkschaften tun können. Hier zwei nicht ganz so ernst geMAInte Vorschläge: dem DGB ersparen, nächstes Jahr eine teure Agentur für den Slogan zu beauftragen. „KliMAIschutz nachhaltig gestalten“, sollte seinen Zweck erfüllen. Und wenn es um die Teilnehmerzahl an den Kundgebungen geht, tun Sie so, als ob es mehr wären – der DGB macht das auch.