Tichys Einblick
Die Demokratie in der Bewährungsprobe

Joe Biden, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Rishi Sunak auf der Kippe

Die USA begehen am 4. Juli ihren Nationalfeiertag. Doch die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung ist mehr: Sie ist die Geburt der modernen Demokratie. In vier der wichtigsten Demokratien muss sich in diesen Tagen die beste aller Regierungsformen bewähren.

picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Debile und impotente Herrscher, die einem Kuckucksei dazu verhelfen, das nächste Staatsoberhaupt zu werden. Greise Politbüromitglieder, die sich an die Macht in einem Land klammern, das sie schon lange nicht mehr verstehen. Prinzen, die nach dem Tod des Vaters einen Bürgerkrieg anzetteln. Auf Lebenszeit bestimmte Führer eines Kirchenstaats, die noch dann an der Macht bleiben, wenn sie in Demenz dahindämmern.

All diese Erscheinungen sprechen für die Demokratie. Anders als andere Machtsysteme kennt sie funktionierende Regelungen, die dafür sorgen, dass nicht mehr funktionierende Regierungen abgelöst werden, ohne dass dadurch die staatliche Ordnung zusammenbricht. Das macht Demokratien stabiler als andere Regierungsformen.

Vier der bedeutendsten Demokratien stehen dieser Tage vor der Bewährung. Die Mächtigen sowie ihr Souverän, das Volk, befassen sich damit, nicht mehr funktionierende Regierungen abzulösen. Zwar unterscheiden sich die Szenarien, doch die dahinter liegenden Gründe ähneln sich. Zur Bewährungsprobe der vier großen Demokratien gehört daher, dass sie sich in einer strukturellen Krise befinden, und nun zeigen können, dass sie Maßnahmen gegen die strukturellen Probleme einleiten können.

Die vier Demokratien in der Bewährungsprobe sind:

– Die USA. Schon an diesem Donnerstag, der in Washington sechs Stunden später beginnt als in Köln oder Berlin, könnte sich Präsident Joe Biden dazu überreden lassen, auf seine Kandidatur im November zu verzichten. Schon lange mehren sich die Warnungen, dass der 81-Jährige seinem Amt nicht mehr gewachsen ist. Bisher haben seine Administration und seine Partei, die Demokraten, mahnende Stimmen aggressiv abgewiesen. Doch seit seinem TV-Duell gegen Donald Trump ist Bidens Hinfälligkeit für alle zu sehen.

– Großbritannien. Auf der Insel finden an diesem Donnerstag Wahlen statt. Die Tories wurden in den letzten Jahren von diversen Skandalen heimgesucht. Besonders die 50 Tage der Liz Truss haben gezeigt, wie dysfunktional die Konservative Partei Britanniens daherkommt. Der Labour-Partei trauen die Wähler vielleicht auch nicht mehr zu. Aber der Arbeiterpartei könnte die Macht nun in den Schoß fallen. Wobei noch unklar ist, inwiefern die Liberalen und die konservative „Reform UK Party“ eine Rolle spielen. In Großbritannien gilt das Mehrheitswahlrecht. Es gibt also keine Abgeordneten, die über Landeslisten ins Parlament einziehen. Sie müssen alle ihren Wahlkreis gewinnen. Pro Wahlkreis kommt also nur ein Kandidat durch – jeweils der stärkste.

– Frankreich. Nach der für seine Partei miserabel verlaufenen Europawahl hat Präsident Emmanuel Macron spontan eine Neuwahl des Parlaments ausgerufen. Auch in Frankreich gilt das Mehrheitswahlrecht. Allerdings mit Stichwahlen, wenn es im ersten Wahlgang keine klaren Mehrheiten gab. Erst der zweite Wahlgang an diesem Sonntag wird zeigen, wie die „Grande Nation“ künftig regiert wird. Zwar führt der konservative Rassemblement National. Aber ein Linksbündnis arbeitet in den Stichwahlen mit Macrons Partei zusammen. Geht deren Kalkül auf, könnte das eine Mehrheit des Rassemblements im Parlament verhindern.

– Deutschland. Auch in Deutschland verliefen die Europawahlen katastrophal für die regierenden Parteien. Grüne und SPD, die in der Ampel den Ton angeben, verloren zusammen zehn Prozentpunkte. Für die SPD war es das historisch schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl – nachdem schon die Europawahl 2019 das historisch schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl mit sich brachte. Anfangs hatte die Wahlniederlage keine Folgen für die Bundesregierung. Doch die Gerüchte mehren sich, dass die Ampel an der Aufstellung eines Haushalts zerbrechen könnte.

Den vier Fällen gemein ist, dass die Regierungen ermüdet sind. Ihre Länder erleben strukturelle Krisen: Einem eigenen Rückgang der Bevölkerung steht eine schlecht geregelte Einwanderung gegenüber. Der Versuch, die Wirtschaft stark zu halten, obwohl die Kernbevölkerung schrumpft, führt zu inneren Spannungen. Der Absicht, in neue Strukturen zu investieren, steht die Neigung entgegen, von der bisherigen Substanz zu leben. Verfestigte Machtstrukturen erschweren den Aufstieg Fähiger aus armen Schichten der Bevölkerung und halten Unfähige aus reichen Schichten in verantwortlichen Positionen. Es haben sich Machtkartelle gebildet, die den eigentlichen Kern der Demokratie gefährden: die Möglichkeit, dass das Volk unfähiges Personal durch fähiges Personal austauschen kann.

Von den vier großen Demokratien in Bewegung sind es nur die Briten, die dem Volk diesen Wechsel sauber ermöglichen. In den USA sorgt die Vor-Auswahl in den beiden großen Parteien dazu, dass die Bürger Stand jetzt sich nur entscheiden können zwischen einem verurteilten und abgewählten 78-Jährigen sowie einem offensichtlich nicht mehr leistungsfähigen 81-Jährigen. In Deutschland hat die Ampel mit einer Wahlrechtsreform dafür gesorgt, dass das Mehrheitswahlrecht künftig eine noch geringere Rolle spielt. Über das Verhältniswahlrecht kommen durch Hinterzimmer-Absprachen Partei-Apparatschicks in die Parlamente. Der Wähler kann zwar Kandidaten wie Frank-Walter Steinmeier, Katrin Göring-Eckardt, Katarina Barley oder Nancy Faeser zeigen, dass er sie nicht will. Doch die bleiben danach nicht nur im Amt – sondern werden sogar noch befördert.

Am dramatischsten wirkt sich in Frankreich die Tendenz aus, durch Machtkartelle einen echten Personalwechsel zu verhindern. Für die Stichwahl hat sich ein Bündnis aus Linksbündnis und Mittebündnis gebildet, um den Sieg des Rassemblement National zu verhindern. Das ist erlaubt und wird vermutlich auch zum Wahlsieg am Sonntag führen. Doch dieser Sieg bedeutet zwar einen Machterhalt für die bisher Aktiven – es folgt daraus aber auch eine faktische Unregierbarkeit Frankreichs. Die Mehrheit im Parlament besteht künftig voraussichtlich aus einem Bündnis, in dem liberale, marktwirtschaftliche Parteien mit Islamisten, Seperatisten und Kommunisten zusammenarbeiten wollen. Echte Reformen sind da nicht zu erwarten.

Dabei haben alle vier Nationen diese Reformen nötig. Sie alle bekommen die Probleme nicht in den Griff, die durch den Rückgang der eigenen Bevölkerung, der schlecht organisierten Integration von Einwanderern und der Notwendigkeit entstehen, die Wirtschaft trotzdem leistungsstark zu halten. Letzteres gelingt den Amerikanern noch am besten. Sie setzen darauf, die Wirtschaft stark zu halten – teilweise ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. So erleben die Amerikaner zwar einen Wirtschaftsboom, weil Künstliche Intelligenz und eine nicht ideologische Energiepolitik das Land antreiben. Doch das Geld sickert nicht von alleine in Mittel- und Unterschicht durch, was für massive soziale Spannungen sorgt. Die Straßen des reichen San Francisco sind gesäumt von Obdachlosen. Deutschland geht den entgegengesetzten Weg: Leistungsloses Bürgergeld sorgt dafür, dass sich Langzeitarbeitslosigkeit im Vergleich zu immer mehr regulären Jobs lohnt.

Reiner Wirtschaftsliberalismus wie in den 1980er-Jahren wird die Probleme nicht lösen. Dafür wird vor allem die Künstliche Intelligenz das Geld zu stark in den Händen von wenigen konzentrieren. Gleichzeitig führt der deutsche Weg der Hängematte für alle – gleich, woher sie kommen, gleich, wie sehr sie sich der Arbeit verweigern – auch zu keinem Ziel. Es braucht ein Gesellschaftssystem, das in einem produktiven, leistungsanregenden Weg das Geld aus der Hände weniger verteilt und den Massen zugute kommen lässt.

Um diese Reformen durchzusetzen, braucht es klare Mehrheiten. Dem stehen aktuell zu sehr die Machtkartelle entgegen, deren oberstes Interesse nicht das Wohl des Landes ist – sondern das Wohl der Mitglieder des Machtkartells. Zum anderen müsste es eine offene Diskussion über die hinter den Problemen liegenden Themen geben, um eine solide Mehrheit auf Lösungen einzuschwören. Doch jede Kritik am Verlauf der Migration steht unter Tabu. Auch gibt es in den Massenmedien zu wenige ehrliche und tiefreichende Auseinandersetzungen mit der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation.

Zur Lösung der Probleme gehört es also zuallerst, die Machtkartelle aufzubrechen und wieder den Einstieg von Außenstehenden in die Systeme zu ermöglichen. Dann braucht es im nächsten Schritt eine ehrliche Bestandsaufnahme. Auf deren Grundlage lassen sich dann Lösungen finden. Das klingt zu optimistisch? Mag sein. Aber Demokratien haben es in der Hand, den Weg zu Lösungen auf die sanfte Tour zu gehen. Was aber besonders für sie spricht: Demokratien schaffen es zur Not auch auf die harte Tour. Die Demokratien in den USA, Frankreich und Großbritannien haben bereits schwere Krisen überstanden und sind trotzdem wieder ins Gleichgewicht gekommen. Vom deutschen Weg zur Demokratie gar nicht erst zu sprechen. Am Ende werden die vier Länder ihre Probleme lösen. Die Frage ist „nur“, wie schmerzhaft der Weg dahin ist. Das ist die große Perspektive. Vor dieser verlieren einzelne Fragen an Bedeutung, wie: Wie lange kann sich Olaf Scholz noch an sein Amt klammern?

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