Im Jahr 2019 kam es zu einem politisch-literarischen Mikroskandal mit Fernwirkung, als die Landesregierung von Rheinland-Pfalz bekanntgab, die Carl-Zuckmayer-Medaille an den österreichischen Autor Robert Menasse zu vergeben. Der Literat gehörte damals wie heute zu den Verfechtern der Idee eines EU-Einheitsstaats, in dem sich die Nationalstaaten auflösen sollten. Um sein Projekt gedanklich zu unterfüttern, legte er in seinem Roman „Die Hauptstadt“ dem ersten Vorsitzenden der EWG-Kommission Walter Hallstein folgenden Satz in den Mund: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“ Und nicht nur das; er ließ Hallstein die Rede zur Gründung des vereinten Europa 1958 in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz halten.
Menasses holzhämmernde Botschaft lautete, dass industrieller Massenmord und Nationalstaat auf der einen und ein postnationales Gebilde auf der anderen Seite logische Antipoden bilden. Und er ließ es nicht bei einer literarischen Fiktion. In mehreren Vorträgen und Podiumsdiskussionen behauptete er, sowohl der Ort der Hallstein-Rede als auch das Zitat wären authentisch. In Wirklichkeit traf beides nicht zu. Menasse hatte Auschwitz-Rede wie Zitat schlicht zugunsten seiner politischen Agenda erfunden. Trotz seiner kaltblütigen „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ (Martin Walser) erhielt er die Auszeichnung. Auch, weil er sich herausredete, er habe, „mich selbst kennend“, in der Hitze der Argumentation den Unterschied zwischen Roman und historischer Behauptung ein bisschen verschusselt.
Bei der Gelegenheit schauten sich einige Kritiker auch andere Menasse-Zitate etwas genauer an. Beispielsweise aus seinem Buch „Europäischer Landbote“ von 2012. Dort lautete seine Forderung, „die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist.“ Bei diesem Zitat handelte es sich um keine Manipulation, sondern um allerechtesten Menasse.
Mit der Kernaussage des letzten Satzes über das Tabu lag er durchaus richtig. Damals vermieden tatsächlich auch Progressive selbst der autoritärsten Spielart einen solchen Satz. Selbst wenn sie meinten, Demokratie tauge nur etwas, wenn sie die richtigen Ergebnisse produziert, sprachen sie sich nicht offen dafür aus, das Mehrheitsprinzip einfach aus dem Weg zu treten. Die Aussage, zum Gelingen des europäischen Projekts müsse erst einmal die Demokratie fallen, hätten sie damals als schlimmen Fall der EU-Delegitimierung gegeißelt, und würden das vermutlich auch heute noch aus Gewohnheit tun, jedenfalls dann, wenn sie nicht aus dem Milieu von Menasse stammen.
In der Debatte, ob Menasse die Zuckmayer-Medaille bekommen sollte, spielte das Zitat aus dem „Europäischen Landboten“ kaum eine Rolle. Sie drehte sich nur um die erfundene Auschwitz-Rede von Hallstein und das gefälschte Zitat. Menasse erkannte sich selbst sehr, sehr mildernde Umstände zu; er sagte sinngemäß, Hallstein habe es vielleicht nicht so gesagt, aber gemeint: „Es fehlte das Allergeringste, das Wortwörtliche“. Und das mit Auschwitz habe ihm jemand erzählt und er, Menasse, hätte es nicht ausreichend geprüft. Der Auszeichnung für den Demokratie- und Geschichtstheoretiker stand folglich nichts mehr im Weg. Die Zeit schrieb von einem „Zitatstreit“, so, als besäße die Ansicht, der erste EWG-Vorsitzende könnte es so gesagt haben, das gleiche Gewicht wie die Tatsache, dass die untergeschobenen Sätze in keiner seiner Schriften und Reden vorkommen.
Eben jene Zeit knüpfte jetzt an den von Menasse seinerzeit schon einmal vorgesponnenen Faden an. Im Jahr 2023 existiert das Tabu nämlich nicht mehr, ein bisschen mehr oder bei Bedarf auch sehr viel Autoritarismus zu wagen. Unter der Überschrift „Einfach mal durchziehen“ stellte der Zeit-Autor Mark Schieritz fest, dass die Umformung der Gesellschaft im Namen von Klima und Identitätspolitik wegen der fehlenden Zustimmung durch die Bürger hakt. Er empfiehlt deshalb einen Wechsel der Methode: „Wer auf einen gesellschaftlichen Konsens hofft, der hofft vermutlich vergeblich. Manchmal gilt: Deckel drauf und durchtransformieren.”
In dem Text fehlen dazu die Vorschläge zur praktischen Durchführung. Denn solange es überhaupt noch Wahlen, Abstimmungen und das eine oder andere kritische Medium gibt, schließt selbst ein fest angedrückter Deckel nicht ganz luftdicht über dem Transformationsreaktor. Immerhin wechselt mit der neuen Technik des Deckelns auch das Narrativ. Bisher hieß es von wohlmeinenden Politikern und Journalisten aus dem Hauptstrom, die Menschen seien ja längst so weit; jedenfalls die meisten oder wenigstens viele; sie zeigten schon die nötige Einsicht in die Notwendigkeit und müssten nur noch, wie es in der gleichen Rhetorik heißt, abgeholt und mitgenommen werden. Jetzt setzt sich offenbar nach und nach die Erkenntnis durch, dass sich die große Durchtransformation nicht mit einer Ordnung vereinbaren lässt, in der die Mehrheit noch eine Rolle spielt. Denn diese Mehrheit will sich einfach nicht abholen und zum großen Endziel befördern lassen. Das weniger wichtige von beiden muss demnach zwangsläufig fallen.
Für die Wohlmeinenden zeigen sich die Grenzen der kulturellen Hegemonie nach Gramsci. Trotz ihrer Feinheit schafft sie offenbar selbst mit erheblichem Aufwand keine echten Mehrheiten. Auf diesen Umstand reagieren sie mit einer selbstverständlich sehr modern inszenierten methodischen Rückkehr zu Lenin, der nie auf die Idee kam, seine Ziele an Mehrheitsverhältnisse anzupassen.
Ganz nebenbei, bis vor kurzem galt es als glasklare Verschwörungstheorie, wenn jemand aus der verdächtigen Ecke unterstellte, eine vom Rest der Gesellschaft weitgehend abgekoppelte Elite betreibe eine Gesellschaftsverformung gegen die Mehrheit. Aber wie es sich bei Theorien über Verschwörungstheorien gehört: Selbst derjenige, der in kritischer Absicht auf den oben zitierten Text in der Zeit verweist, gilt wahrscheinlich immer noch als zersetzender Delegitimierer, ganz im Gegensatz zum Redakteur des Blattes. Ein später deutscher Dialektiker wie Thomas Haldenwang kann das erklären.
Unbeantwortet und sogar völlig unberührt bleibt bei Menasse, Schieritz und vielen anderen die Frage, warum eigentlich eine Mehrheit Projekte wie den EU-Einheitsstaat, die staatsdirigistische Ordnung der knappen teuren Energie und die faktische Abschaffung der Grenzkontrollen ablehnt. Bei jedem einzelnen dieser Politikfelder handelt es sich nach Auskunft derjenigen, die das Durchtransformieren vorantreiben, um Vorhaben, von denen alle profitieren, es besteht zweitens ein moralisches Gebot, so zu handeln, außerdem heißt es zu jedem der genannten drei Punkte, hier laufe ein sowieso unvermeidlicher Prozess seinem Endziel entgegen, er bedürfe nur noch, wie es in den entsprechenden Reden und Artikeln heißt, der Leitplanken.
Natürlich bieten die Wohlgesinnten auf Nachfrage auch Erklärungen an, weshalb sich die Mehrheit so anstellt, gemäß dem Satz der 3. Hexe in Macbeth: „Wir geben Antwort.“ Es liegt an der mangelnden Aufgeklärtheit der Leute, am billigen Populismus – Populismus, in den kein Staatsgeld fließt, kann nur billig sein –, vor allem und hauptsächlich aber daran, dass Menschen sich eben an das Gewohnte klammern. Dafür bringen die Transformatiker sogar Verständnis auf. Bei ‚Deckel drauf und durch‘ handelt es sich nach ihrem Verständnis demnach um eine Art Schonverfahren. Statt die Stur- und Strukturkonservativen durch Diskussionen weiter zu verunsichern, kommen die Problemfälle in den gesamtgesellschaftlichen Schmortopf, um dort in einem neuen und besseren Zustand aufzuwachen, wenn jemand um das Jahr 2035 den Deckel wieder abnimmt. Welche Konzilianz sie den Veränderungsunwilligen bis zu welchem Punkt entgegenbringt, erklärte Katrin Göring-Eckardt ausführlich in einem Interview mit der FAZ über ihre Sommertour zu den Menschen.
„Es gibt eine Sache, die habe ich in allen Gesprächen auf meiner Tour gespürt. Sehr viele haben das Gefühl, es gibt zu viel Veränderung“, so die Grünenpolitikerin: „Für diese Veränderungsmüdigkeit habe ich Verständnis.“ Aber: „Ich kann ihr leider nicht nachgeben. Die Klimakrise, die globale technische Entwicklung warten nicht. Um neuen Wohlstand zu sichern, müssen wir jetzt vorsorgen. Da führt kein Weg dran vorbei.“
Die Klimakrisenpartei musste bekanntlich schon mehrere harte Entscheidungen fällen, an denen nichts vorbeiführte, etwa, die letzten drei Kernkraftwerke abzuschalten und dafür Kohlekraftwerke wieder hochzufahren. Dass Politiker ohne jede Erfahrung in einem bürgerlichen Beruf (und in Göring-Eckardts Fall auch ohne Studienabschluss) die globale technische Entwicklung besonders souverän überblicken, weil sie sich von Details nicht ablenken lassen, versteht sich von selbst. Wie gut ihre Wohlstandssicherung durch Vorsorge bisher in Deutschland läuft, lässt sich an volkswirtschaftlichen Daten ablesen. Und das allgemeine Wirtschaftsverständnis der Partei an den Wahlplakaten.
Katrin Göring-Eckardt kann dem Wunsch nach halbwegs funktionierenden Strukturen leider nicht nachgeben, denn Klima und Zukunft wollen es anders. Generell erfüllen Veränderungen für sie einen Selbstzweck, wie sie in dem schon zitierten FAZ-Interview ausführt:
„Mir wird langweilig, wenn ich nicht über Veränderung nachdenken kann, weil ich überzeugt bin: Eine Gesellschaft muss in Bewegung bleiben, wenn sie eine lebenswerte Zukunft bewahren will. Im Augenblick leben wir ja in einer Phase der dauernden Krisenbewältigung. Die Frage ‚Wie kann man diejenigen einbeziehen, die von Veränderungen betroffen sind?‘ kommt mir oft zu kurz.“
Die Veränderungen – und hier liegt einer von mehreren Schlüsseln zum Verständnis der Transformatoren – benachteiligen also nicht sie, sondern andere. Die These über mangelnde oder eben große Veränderungsbereitschaft lässt sich übrigens gegenüber Mitarbeitern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Bundestagsvizepräsidentinnen gut prüfen, indem man den einen vorschlägt, den Laden zu privatisieren, und den anderen, auf die Zulage über die normale Abgeordnetendiät hinaus zu verzichten. Langweilig würde das Leben der einen wie der anderen dadurch ganz bestimmt nicht.
Nur wenige Menschen wehren sich generell gegen Veränderungen. Aber fast alle, so fremd das vielleicht in den Ohren der Bessergestellten klingt, die sich für immun halten, sträuben sich gegen Verschlechterungen in eigener Sache.
Aber zurück zur Methode ‚Deckel drauf‘: Es gehört also nicht mehr zu den Tabus progressiver Kreise, sich für Herrschaftsausübung ohne Legitimation auszusprechen. Für die Vorsitzende des Ethikrats Alena Buyx beispielsweise steht es außer Frage, dass Bürger nicht einfach ganz privat über ihre Nahrungsaufnahme entscheiden dürfen.
Ein anderer Fall für die Sammlung findet sich ebenfalls in der Zeit, und zwar in dem Interview mit dem gerade scheidenden EU-Botschafter in der Schweiz Michael Reiterer, dem es nicht in den Kopf will, dass und warum die Eidgenossen sich gegen eine Brüsseler Oberhoheit aussprechen. Sondern stattdessen, wie Reiterer es ihnen vorhält, „an einem Status quo festhalten, den es so längst nicht mehr gibt“. Er weiß selbstredend, dass die Schweizer schon 1992 in einem Referendum mehrheitlich gegen den Beitritt zur EWG stimmten.
Aber, inzwischen, so der Botschafter, gebe es doch die EU und die habe sich weiterentwickelt. Die Abneigung der Helveten gegen einen Beitritt allerdings auch, hätte der Interviewer hier einwerfen können. Und Reiterers Anteil daran kann sich sehen lassen. Darüber, wie heute ein neues Referendum ausginge, macht er sich vermutlich keine Illusionen. Er kann es nur nicht fassen, dass die Regierung des kleinen stachelschweinförmigen Lochs inmitten der EU ihre Bürger überhaupt nach ihrer Meinung fragt. „Man erlebt in Brüssel“, klagt er, „kaum einen Schweizer Vertreter, der sagt: Das machen wir jetzt so. Es ist immer ein vorsichtiges Lavieren. Weil die Gewerkschaften noch irgendwelche Einwände haben, die Kantone ihre Bedenken äußern und die SVP schon wieder mit dem Referendum droht.“ Eine Drohung kann der Ruf nach einem Referendum aus Sicht des Brüsseler Hochkommissars ja nur deshalb darstellen, weil sie mehrheitlich nicht wollen. Auch Reiterer fragt sich offenbar keine Sekunde lang (und wird von der Zeit nicht gefragt), weshalb diese Gebirgler nicht mit der wehenden Schweizerfahne zu ihm überlaufen. Wir erfahren auch nicht, was er eigentlich mit ihnen anfangen will. Die, sagen wir, kulturellen Unterschiede klaffen doch beträchtlich zwischen einem Land, in dem Kantone und sogar Bürger ganz ohne Vorauswahl mitreden dürfen, und einem Gebilde, in dem der Name der obersten Repräsentantin zwar auf keinem Wahlzettel stand, dafür aber aktuell in vielen Akten von Antikorruptionsermittlern vorkommt.
Große organisatorische Einheiten dienen als Treibhäuser für postdemokratisches Denken. Es diffundiert von dort langsam nach unten in die Gesellschaft. Ganz ähnlich wie der EU-Apparat denkt man auch in der EZB und einem bisher noch weitgehend unbekannten Gremium, der „Better Than Cash Alliance“. Ab kommendem Jahr möchte die EZB ihr digitales Zentralbankgeld, wie es heißt, ausrollen. Der elektronische Euro wäre an sich kein Problem in den Händen einer vertrauenswürdigen Institution, die Verträge hält, etwa den von Lissabon, der die Haftung für Staatsschulden anderer Mitgliedsstaaten ausschließt. Oder eigene Zusagen ernst meint, beispielsweise die, nur Anleihen mit bestem Rating zu kaufen. Einer Christine Lagarde nehmen viele aus verständlichen Gründen nicht ab, dass die Bezahlung mit dem E-Euro strikt anonym funktionieren soll.
Nach dem digitalen Euro ruft keine Mehrheit, noch nicht einmal eine qualifizierte Minderheit. An diesem Beispiel zeigt sich die ganz selbstverständlich betriebene Verschiebung in die Postdemokratie: Es findet gar keine größere öffentliche Debatte mehr statt, wer das Digitalgeld überhaupt wünscht, und wem es nützt. Auf diese Fragen würde Lagarde vermutlich ähnlich antworten wie Göring-Eckardt: Man darf nicht stehenbleiben, es braucht Veränderungen, andere Währungsblöcke täten das gleiche und überhaupt sei der Zug in Richtung schon aus dem Bahnhof heraus. Die Zusicherung, selbstverständlich hege niemand die Absicht, das Bargeld abzutasten, stammt noch aus der alten Zeit, in der Technokraten bei den Bürgern zumindest eine kleine Rückversicherung suchten.
In der Zeit der Machtverschiebung gewinnen Gebilde eine immer größere Rolle, die noch über Entitäten wie der EU und der EZB schweben. Dazu gehört die oben erwähnte Better Than Cash Alliance mit Sitz in New York. Schon die Definition fällt nicht ganz leicht. Sie selbst nennt sich eine „UN-basierte Organisation, tatsächlich gehören etliche UN-Unterorganisationen zu der Allianz, die elektronische Bezahlsysteme weltweit fördert. Aber auch eine ganze Reihe von Regierungen, außerdem internationale Großunternehmen wie H & M und Unilever, dazu Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation und die Clinton Foundation. Und das Bundesministerium für Entwicklungshilfe, das auch deutsches Steuergeld in die Kasse der Allianz zahlt, die eigentlich schon der wohlhabenden Mitglieder wegen nicht an Geldmangel leiden dürfte.
Auch hier findet die Arbeit sehr unöffentlich statt. Dass es Kräfte gibt, die das anonyme Bezahlen zurückdrängen wollen, weil sie gern an die Geldtransferdaten möchten, aber auch, weil der eine oder andere von der Verknüpfung der Zahlungsdaten mit Sozialpunkten und/oder einem persönlichen C02-Budget träumt, das liegt auf der Hand. Aber welche Mehrheit ruft nach dieser Entwicklung? Wer gibt dem Bundesministerium das Mandat, bei diesem Homunkulus aus UN-Bürokratie, Staaten, Konzernen und Stiftungen mitzumischen? Was gibt es eigentlich zu verbergen, wenn die Absichten lauter sind?
Schon nach kurzer Suche lassen sich auf Spiegel Online gleich mehrere Beiträge finden, die elektronische Bezahlsysteme nicht nur einfach positiv beschreiben, sondern mehr oder weniger suggerieren, so sähe der unvermeidliche Weg in die Zukunft aus.
Sollte unter diesen Texten nicht der kurze Hinweis stehen, dass das Medium seit 2019 jährlich 760.000 Euro von der Bill and Melinda Gates Stiftung erhält? Eine solche Zuwendung, wie sie Tichys Einblick nie bekäme und auch nicht wollte, wäre nicht von vornherein verwerflich, wenn jeder die Überschneidungen zwischen Geldgeberinteressen und Journalismus kennt.
Alle oben beschriebenen Entwicklungen führen zu dem gleichen Punkt: Es gibt keine Mehrheiten für einen EU-Einheitsstaat, in keinem einzigen Mitgliedsland. Es gibt keine Mehrheit für einen EU-Beitritt der Schweiz. In Deutschland (und anderswo) möchte sich eine Mehrheit nicht den ohnehin schon bescheidenen Wohlstand zugunsten eines klimagerechten Wohlstands für wenige wegtransformieren lassen. Die meisten halten essen (und wohnen, reisen, heizen) für Privatangelegenheiten. Und gut zwei Drittel bis drei Viertel der Leute nutzen zwar Karten, möchten aber die Alternative des Bargelds behalten. Für eine CO2-und-Konsumüberwachungsgesellschaft gibt es nur wenige Unterstützer aus einem kleinen Milieu, und nichts spricht dafür, dass sich diese Größenverhältnisse bald ändern.
Da die skizzierten Entwicklungen trotzdem weitergehen, lässt sich nur die Schlussfolgerung ziehen, dass die Mitglieder des diskreten Geflechts aus Agendapolitikern, Organisationen und publizistischen Unterstützern gerade die Möglichkeit abschreiben, sich Mehrheiten für ihre Ziele zu suchen, sondern sich auf anderen Wegen vortastet. Nicht, dass sie Mehrheiten verschmähen würden, wenn es sie gäbe. Aber eher wächst zurzeit aus Gründen das Misstrauen des politischen Endverbrauchers. Er wittert zu Recht bei jedem neuen angebotenen Gesellschaftsvertrag Geheimklauseln und Zaubertinte.
Die Befürworter der großen Veränderung für das Leben anderer Leute zeigen keine Bereitschaft, sich von Bürgern rote Linien ziehen zu lassen. Dem können sie aus übergeordneten Gründen nicht nachgeben. Um diese Fußnote sicherheitshalber auch noch unterzubringen, der Autor weiß, dass auch Mehrheiten nicht immer weise entscheiden. Aber eine Entscheidung nach einer offenen Debatte findet wenigstens auf der Bühne statt; es gibt mit einer Mehrheit auch einen kollektiven Verantwortlichen. Die öffentliche Debatte zählt fast noch mehr als die Abstimmung, denn bei dem Hin und Her der Argumente geht es auch um die Frage, wer bei einer gesellschaftlichen Veränderung welche Lasten trägt. Es geht, wie es im Englischen heißt, um the skin in the game.
Bisher gibt es schon eine Welle von progressiven Büchern und Artikeln, die den individuellen Freiheitsbegriff für hoch problematisch erklären. Demnächst dürften mehrere Serienerzeugnisse über die Gefahren der Mehrheitssuche dazukommen, mit Formulierungen wie der, warum es falsch ist, nach Mehrheiten zu schielen, und dass es ganz neue Formen der Teilhabe braucht, etwa nach dem Vorbild der Dialoge des Bundeskanzlers mit zertifizierten Fragestellern.
Die Idealvorstellung der Transformierer besteht darin, dass unter dem möglichst fest angedrückten Deckel die Idee des Bürgers selbst zerfällt. Das kann passieren. Schließlich existierte diese gesellschaftliche Figur nicht schon immer, sondern erst seit einigen Jahrhunderten.
Andererseits argumentiert es sich auch für die Gegner dieser Entwicklung leichter. Sie sparen es sich, in Zukunft noch glibberige Begriffshüllen wie unsere Demokratie zu sezieren.
Wer offen ausspricht, dass Mehrheiten nichts mehr zählen sollen, wenn sie bestimmten Zielen im Weg stehen, trägt zur Klarheit bei und verdient deshalb ein Dankeschön.