„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
An dieser Passage – entnommen einem Interview, das Bundestagspräsident Wolfang Schäuble dem Tagesspiegel gab – ist alles richtig und folglich nichts falsch. Dass dieses Zitat dennoch für Unmut und Empörung sorgt, hat im Wesentlichen zwei Gründe: frühere Äußerungen seines Urhebers und verfassungsrechtliche Unkenntnis.
Frühere Äußerungen Schäubles
Man kann den Kritikern des an sich nicht zu beanstandenden Schäuble-Zitates zu Gute halten, dass der heutige Bundestagspräsident im Laufe seiner politischen Laufbahn mehrfach als unsicherer Kantonist in Fragen des Lebensschutzes in Erscheinung trat. So etwa beim Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes, das der Bundestag am 11. Januar 2005 beschloss und welches das Bundesverfassungsgericht mit seinem Grundsatzurteil vom 15. Februar 2006 wieder kassierte. Oder auch als er sich in der Stammzelldebatte in einem Zeitungsbeitrag zu der Aussage verstieg: „Mensch ist, wer von einer Frau geboren wurde.“ (FAZ v. 21.5.2001). Einige Wortmeldungen zeigen, dass Schäubles Position beim Streit um das Luftsicherheitsgesetz als Folie betrachtet wird, auf der seine aktuellen Äußerungen interpretiert werden müssten. Das ist falsch. Nicht nur, weil jeder Mensch dazu lernen und folglich frühere Positionen revidieren kann, sondern auch, weil es hier nichts zu interpretieren gibt.
Verfassungsrechtliche Unkenntnis
Menschenwürde und das Recht auf Leben sind nicht identisch. Der juristische Laie kann das bereits daran erkennen, dass der Schutz der Menschenwürde in Artikel 1 Absatz 1, das Recht auf Leben aber in Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz behandelt wird. Richtig ist, dass es zwischen beiden Rechtsgütern Überlappungsbereiche gibt. Dies hat in vielen, aber keineswegs allen Fällen zur Folge, dass derjenige, der das eine Rechtsgut verletzt, auch das andere in Mitleidenschaft zieht.
Denn der Staat ist nicht verpflichtet, das Leben seiner Bürger mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Wäre es anderes, müsste jeder Bürger – auch ohne Corona – sein Dasein in staatlich zertifizierten Gummizellen zubringen. Das Recht auf Leben beschränkt sich vielmehr auf das Recht eines jeden Bürgers, nicht von einem anderen getötet zu werden, sowie sich darauf verlassen zu können, dass der Staat dort, wo dieses Recht (im Erfolgs- wie im Versuchsfalle) dennoch missachtet wird, nach den Tätern fahndet, um sie vor Gericht zu stellen.
Jedes Leben endet tödlich
Das bedeutet wiederum nicht, dass der Staat nun gar nichts zum Schutz besonders vulnerabler Personen unternehmen bräuchte. Aber er ist weder verpflichtet noch berechtigt, zu ihrem Schutz die Grundrechte aller anderen zu suspendieren. Er darf und muss hier abwägen. Mehr hat Schäuble nicht gesagt. Mit Sozialdarwinismus hat das nichts zu tun. Wohl aber mit der Anerkennung des schlichten Faktums, das jedes Leben tödlich endet. Auch wenn in unserer wohlstandsverfetteten, risikoarmen Vollkaskogesellschaft es manche gerne anders hätten: Das Leben ist kein Ponyhof.
In der Osterzeit darf sicher auch daran erinnert werden: Christen glauben nicht nur an ein Weiterleben der unsterblichen Seele nach dem Tod, sondern auch an die Auferstehung des dann verklärten Leibes aus diesem. In der Präfation der Totenmesse heißt es deshalb: „Deinen Gläubigen, oh Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen. Und wenn die Herberge der irdischen Pilgerschaft zerfällt, ist uns im Himmel eine ewige Wohnung bereitet.“
Dieser Beitrag von Stefan Rehder erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.