Wer in diesen Tagen im herbstlichen Berlin mit Politikern und Parteimitarbeitern spricht, erlebt unruhige, teils auch ratlose Profis. Vor ihren Augen löst sich gerade das alte Parteiengefüge der Bundesrepublik auf. Darin besteht zurzeit ihre einzige Sicherheit. Was kommt, weiß niemand von ihnen. Aber plötzlich scheinen viele Entwicklungen möglich, die bisher als undenkbar oder wenigstens extrem unwahrscheinlich galten. Koalitionsbruch in Berlin, Bundestagswahlen schon im nächsten Jahr – darüber reden zurzeit viele im Regierungsviertel. Eine SPD, die im Bund nur noch auf zehn Prozent kommt und aus Landtagen fliegt? Nicht ausgeschlossen. Ein Bundestag ohne CSU? Könnte passieren. Eine Regierungspartei AfD? Im Osten nicht länger eine reine Schimäre.
Die aktuellen Wahlumfragen zeigen in harten Zahlen, wie alte Gewissheiten in Brüche gehen. Lange galt es beispielsweise als ausgemacht, dass die AfD ihr Bundestagswahlergebnis von 2021 bestenfalls leicht steigern kann. In der Forsa-Umfrage vom 17. Oktober liegt sie bei 21 Prozent, in einer etwas älteren Erhebung von Insa sogar bei 23 Prozent, vorerst ein Rekordwert. Bisher funktionierte in der Bundesrepublik auch immer der Stimmen- und Popularitätstransfer zwischen Regierungsbündnis und der größten Oppositionskraft. Auch die Konstante existiert nicht mehr: Obwohl die Ampelkoalition immer neue Tiefststände erreicht, gewinnt die Union weit weniger dazu, als SPD, Grüne und FDP verlieren.
Was die Zahlen nicht zeigen: Dort, auf dem Feld der neueren und kleineren politischen Kräfte finden gerade viele Treffen, Gespräche und Planungen statt. Vor allem deshalb geht es im etablierten Berlin gerade hochnervös zu.
Bei den Plänen für einen Koalitionswechsel handelt es sich längst um mehr als nur ein Gerücht. Nach dem katastrophalen SPD-Wahlergebnis in Hessen – für Bayern lagen die Erwartungen sowieso ganz unten – und dem Niedergang im Bund dämmert Kanzler Olaf Scholz und seinem Führungszirkel, dass er jetzt die Migration zusammen mit der Union wenigstens eindämmen muss, wenn die Sozialdemokratie selbst in der Zone unter 20 Prozent noch eine relevante politische Kraft bleiben will.
Rezession, Inflation, Energiekrise, wachsende Terrorgefahr – all diese Themen beherrschen die Agenda. Aber keins so stark wie der Zuwanderungsstrom, den Gemeinden und Landkreise nicht mehr bewältigen können. Im September registrierte die Bundespolizei 20.000 illegale Grenzübertritte, eine Rekordzahl. Bürgermeister und Landräte quer durch das Parteienspektrum fordern ein Ende der Jeder-kann-rein-Politik. „Wir sind nicht taub und nicht blind“, meinte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am Bayern- und Hessen-Wahlabend.
Am Montag dieser Woche trafen sich Olaf Scholz und CDU-Chef Friedrich Merz, um über einen Kurswechsel zu beraten. Sollten die Grünen ihre Zustimmung zu Maßnahmen verweigern, die den Zustrom deutlich verringern, dann, so die Überlegung, könnte sich Scholz von Robert Habeck und Annalena Baerbock trennen, um mit FDP und Union eine Art Notkoalition zu bilden. Im Gegenzug gäbe es dann schon 2024 Bundestagswahlen. Denn nur unter dieser Bedingung ließen sich Merz und CSU-Chef Markus Söder als Hilfskräfte eines Kanzlers anheuern, dessen Partei gut 15 Prozentpunkte hinter der Union liegt.
Nutzen würde dieses spektakuläre Manöver (fast) allen Beteiligten. Die SPD könnte sich, wenn sie es tatsächlich zusammen mit der Union schaffen sollte, die Asylmigration zu drosseln, möglicherweise auf einem niedrigen Niveau stabilisieren. Schleppt sie sich dagegen weiter mit den Grünen und der politischen Vielfachkrise zum regulären Wahltermin 2025, droht ihr ein 10-Prozent-Ergebnis im Bund – und vorher der Absturz bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, möglicherweise in die außerparlamentarische Opposition.
Auch bei der FDP reift nach einer Serie verlorener Landtagswahlen die Erkenntnis, dass sie die Fortsetzung der Koalition mit den Grünen bis 2025 höchstwahrscheinlich nicht überlebt. CDU-Chef Friedrich Merz könnte mit dem Amtsbonus eines Wirtschaftsministers in die vorgezogene Bundestagswahl gehen, und aus dieser Position auch seine unionsinternen Konkurrenten auf Abstand halten. Selbst die Grünen kämen alles in allem besser weg, als wenn sie einem Migrationskompromiss zustimmen und noch eineinhalb weitere Ampeljahre lang sich und andere quälen würden – von der Bürgermehrheit einmal ganz abgesehen. Eine wirkliche Wende in der Zuwanderungsfrage müssten sie mit einem massiven Verlust ihrer linken Wähler bezahlen.
Auch ganz unabhängig von der Koalitionswechsel-Frage steigt die Wahrscheinlichkeit vorgezogener Bundestagswahlen derzeit von Woche zu Woche. Die Etablierten spüren die ersten Wellen des politischen Bebens unter ihren Füßen und überlegen, wie sie ihren neuen Konkurrenten zuvorkommen könnten. Die neuen Kräfte sehen das Momentum auf ihrer Seite. Schon 2021 traten die Freien Wähler bei der Bundestagswahl mit Hubert Aiwanger an – nur merkte das damals kaum jemand. Eine Kampagne fand damals praktisch nicht statt. Das soll sich diesmal ändern. Inzwischen legt die Truppe auch außerhalb Bayerns zu: Bei der Landtagswahl in Hessen steigerte sie sich auf 3,5 Prozent, nach einer Umfrage für Sachsen besitzt sie mit 4,8 Prozent handfeste Chance auf den Parlamentseinzug. Vor allem genießt Hubert Aiwanger nach dem Versuch der „Süddeutschen“ und anderer Medien, ihn aus dem Weg zu räumen, bundesweite Bekanntheit. Im kleinen Kreis gibt er zu erkennen, dass er sich das Amt des Bundeswirtschaftsministers durchaus zutraut.
Daneben formieren sich auch andere neue Kraft rechts der Mitte, wenn auch einstweilen im Kleinformat. Am kommenden Samstag treffen sich in Erfurt Vertreter der Kleinparteien Bürger für Thüringen, Die Basis, die bisher in Thüringen eher schwach aufgestellten Freien Wähler – und zwei prominente Unionsmitglieder: der Vorsitzende der Werte-Union Hans-Georg Maaßen, der in der Bundestagswahl 2021 in Thüringen antrat, und die aus Thüringen stammende Ex-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld. Aus der Versammlung soll ein „Bündnis für Thüringen“ entstehen, das unter dem Motto „Brücken statt Brandmauern“ zur Landtagswahl antreten will. Das Ziel, so Maaßen, bestehe darin, „eine bürgerliche Alternative zwischen CDU und AfD zu schaffen“. Es gehe darum, „den neosozialisischen Block zu entzaubern“. Auf Nachfrage lässt Maaßen offen, ob er selbst für das Bündnis kandidieren will. Sollte die Sammlungsbewegung in Thüringen Erfolg haben, heißt es in ihrem Umkreis, dann komme als nächstes eine Ausdehnung auf Sachsen.
Daneben trommelt der Autor und frühere Vorstandschef von Degussa Markus Krall für eine neue Partei, die bürgerliche Wähler anziehen soll.
Zu den Umwälzungen, die bisher undenkbar schienen, gehört auch eine völlig neue Mehrheitsarithmetik. Sollten in Thüringen und Sachsen gleich mehrere Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, dann würden schon knapp über 40 Prozent der Stimmen für eine absolute Sitzmehrheit reichen. In Thüringen jedenfalls stehen die Grünen nach einer Insa-Umfrage vom 16. September bei sechs, die FDP bei 4 Prozent. Selbst die SPD, derzeit 10 Prozent, könnte noch tiefer fallen. In Sachsen sieht es sehr ähnlich aus: dort, wo im Kaiserreich ihre Hochburg lag, zittert die SPD mit 7,6 Prozent nur noch knapp über der Todesgrenze. Die Grünen mit 7 Prozent liegen noch näher an dieser Marke, die FDP mit 3,7 Prozent deutlich drunter. Auch die Linkspartei erreicht dort gerade noch 9,3 Prozent.
Ein Landtag, in dem nur noch zwei Parteien sitzen, wäre nach diesen Zahlen nicht völlig ausgeschlossen: CDU und AfD. Und die Partei, mit der niemand koalieren will, liegt in der Umfrage mit 33,4 Prozent vorn. Diese Kräfteverteilung, in der nur zwei Parteien über 30 Prozent liegen, und dann nur noch Konkurrenten folgen, die alle weniger als ein Zehntel der Stimmen einsammeln können, gab es noch nie. Absolute Mehrheiten im Osten, heißt es in der AfD-Führung, seien zwar unwahrscheinlich, aber nicht mehr unmöglich. Wer darüber mit Führungsleuten der Partei spricht, spürt auch eine Verunsicherung. Zwar erklärte die Vorsitzende Alice Weidel am Abend des 8. Oktober: „Nach den Landtagswahlen im Osten wird bei der Regierungsbildung niemand mehr an der AfD vorbeikommen.“ Aber bisher rechnete die Parteispitze eher mit einem Tolerierungsmodell. Schon bei einer Koalition stellt sich bei der bisher völlig regierungsunerfahrenen Kraft die Frage nach dem Personal. Bei einer absoluten Mehrheit könnte sie derzeit gar nicht genügend Kandidaten aufbieten, um die Posten zu besetzen. Jetzt, heißt es in der Führung, bräuchte die Partei dringend eine Personalplanung, um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.
Für eine bisher sehr selbstbewusste Kraft gilt das ganz besonders: die CSU. Nach dem neuen Wahlrecht, in dem es keine Grundmandatsklausel mehr gibt, müsste sie bei der Bundestagswahl in Bayern 40 Prozent der Zweitstimmen einsammeln, um bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Was bedeutet, besser abzuschneiden als bei der Landtagswahl am 8. Oktober. Sollten Freie Wähler und AfD im Freistaat bei der Bundestagswahl ähnlich zulegen wie vor kurzem auf Landesebene, dann könnten die Christsozialen zum ersten Mal in der Geschichte den Einzug in Berlin verpassen. Zwar gehen viele Verfassungsrechtler davon aus, dass die Wahlrechtsänderung der Ampel in Karlsruhe scheitert. Nur: Wetten schließt darauf kaum jemand ab.
Mit welcher Strategie geht die CDU in die Ost-Landtagswahlen, bei denen ähnlich wie für die CSU im Bund alles auf dem Spiel steht? Nicht nur offiziell, sondern auch im Hintergrundgespräch versichern Kenner der inneren Debatten, mit Merz werde es unter keinen Umständen eine Tolerierung durch die AfD geben, schon gar keine Koalition, weder in Thüringen noch in Sachsen. Käme es zu einer Zusammenarbeit, egal in welcher Form, sagt jemand aus der Partei, „dann kann sich die CDU einsargen lassen“. Die einzige Parole – oder vielmehr Hoffnung – lautet: „Die CDU muss bei den Landtagswahlen im Osten so stark werden, dass nicht gegen sie regiert werden kann.“
Möglicherweise hält die Ampel doch, obwohl das Bündnis keinem der Beteiligten noch einen Vorteil verschafft. Wie schnell die neuen politischen Kräfte sich in die kommenden Wahlkämpfe werfen können, kann niemand sagen. Aber die Ursachen des großen politischen Bebens lassen sich nicht wegdiskutieren. Erstens bringt der Druck der ungelösten Probleme die alten Verhältnisse zum Einsturz. Zweitens lösen sich allmählich auch die Lagergrenzen zwischen rechts und links auf. Bei der Landtagswahl in Hessen etwa beobachteten Demoskopen sogar eine Wählerwanderung von den Grünen zur AfD. Auch eine Wagenknecht-Partei läge quer zu dem alten Schema. Und drittens hinterlässt die Dauerstigmatisierung aller Kräfte rechts der Mitte durch die meisten Medien bei den Stimmbürgern immer weniger Eindruck. Das zeigen die Wahlergebnisse der AfD in Bayern und Hessen und die Umfragedaten, aber auch der Versuch, Aiwanger aus dem Amt zu schreiben. Wenn überhaupt, dann bewirkt das Dauerfeuer mittlerweile eher das Gegenteil.
In anderen Länder Europas löste sich die alte Parteienordnung der Nachkriegszeit schon weitgehend auf – in Frankreich und Italien. Die Niederlande, wo im November Parlamentswahlen anstehen, erleben gerade das große politische Beben. In Deutschland könnte sich das Jahr 2023 als das letzte herausstellen, in dem noch die alten bundesrepublikanischen Parteienverhältnisse einigermaßen gelten. Wie die Entscheidungen 2024 ausgehen: Hier gibt es nur Fragezeichen. Sicher ist nur: Es kommt eine Umbruchszeit.