Tichys Einblick
Deutscher Sonder- und Holzweg

Das Gegenteil von Deutschland: Frankreich legt die Inzidenz-Fesseln ab

Emmanuel Macron gibt den Franzosen, was den Deutschen verwehrt bleibt: einen Öffnungsplan. Die Notbremse soll erst bei einer Inzidenz über 400 möglich sein. Im Sommer werden Frankreich und andere Nachbarländer offen sein – und Deutschland in Europa isoliert da stehen.

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron

IMAGO / IP3press

Wenn es um Selbstverpflichtung für vermeintlich höchste Zwecke geht, sind die Deutschen ihren Nachbarländern an Eifer für gewöhnlich den ein oder anderen Schritt voraus. Deutschsein heißt schließlich, wie Richard Wagner einst behauptete, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun. Da sind die Deutschen offenbar eher als andere europäische Länder geneigt, sich selbst auch schon mal Fesseln anzulegen, die nicht nur die Freiheiten und Grundrechte der Bürger einschränken, sondern auch die Entscheidung- und Ermessensspielräume der Politik. Nichts anderes ist schließlich durch die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (in bester Politik-PR-Sprache „Bevölkerungsschutzgesetz“ genannt) und die so genannte Bundesnotbremse geschehen: Eine ganze Gesellschaft ist seither an die so genannte Inzidenz gefesselt, also das Verhältnis von positiv auf das Corona-Virus Getesteten zur Einwohnerzahl eines Gebietes.

Der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier sagte gerade in der FAZ: „Der jetzt für die Schulschließungen maßgebliche Inzidenzwert von 165 grenzt an Willkür.“

Was die deutsche Öffentlichkeit und erst recht der deutsche Politikbetrieb dabei allen Bekenntnissen zu Europa und Weltgemeinschaft zum Trotz weitestgehend ausblenden, ist die Entfremdung Deutschlands von den Nachbarn. Wie schon bei anderen höchsten Zwecken, etwa dem Atomausstieg 2011 und der Willkommenskultur von 2015 kriegen sie nicht mit, dass die Nachbarländer ganz und gar nicht willens sind, sie auf dem Holzweg zu begleiten. Der wird dadurch mal wieder zu einem Sonderweg.

Tendenziell stehen bei allen europäischen Nachbarn (außerhalb der EU sowieso) die Zeichen auf Lockerung der Maßnahmen, obwohl die Inzidenzwerte in manchen Ländern deutlich über denen in Deutschland liegen. Man nimmt sie ganz offensichtlich nirgendwo so wichtig wie hierzulande.

So hat gerade das größte und wohl wichtigste Nachbar- und Partnerland Frankreich das Gegenteil von Deutschland beschlossen. Nämlich deutliche Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Dort gilt bislang noch ein ähnlich harter Lockdown wie hierzulande, inklusive Ausgangsperre ab 19 Uhr. Nun hat Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag eine „Agenda der Wiedereröffnung“ angekündigt.

In einem Tweet spricht Macron vom „Weg, der uns zurückführt ins normale Leben“.

Die Agenda sieht vor, dass ab dem 19. Mai Museen, Theater und Kinos öffnen und Gastronomiebetriebe auf Außenterrassen bewirten dürfen. Ab 9. Juni dürfen Restaurants dann auch in Innenräumen öffnen, ebenso Sportangebote in Hallen. Großveranstaltungen sollen nach der Einführung eines Gesundheitspasses wieder erlaubt sein. Ab dem 30. Juni sollen alle Maßnahmen aufgehoben sein, abgesehen von Hygiene-Maßnahmen.

Die „Notbremse“, die Macron vorstellte, hat mit dem starren Inzidenz-Automatismus Deutschlands wenig gemeinsam. Es sind Kann-Bestimmungen, die nur für Städte und Départements gelten sollen, die „einen sehr brutalen Anstieg des Inzidenzwerts“ feststellen, der „400 Infektionen auf 100.000 Einwohner übersteigt“ (also das Vierfache des deutschen Wertes) und eine Bedrohung der Intensivbetreuungskapazitäten mit sich bringe. In diesem Fall werde die Regierung in Absprache mit den Präfekten und lokalen Behörden die Öffnungen rückgängig machen.

Die Franzosen wissen also jetzt so gut wie sicher, dass sie im Sommer – die nationalen Ferien beginnen immer zum ersten Juli – wieder genießen dürfen, was Macron „unsere französische Art zu leben“ (notre art de vivre à la française ) nennt. Die deutsche Art zu leben bleibt dagegen auf unabsehbare Zeit die automatische Selbstfesselung.

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