Der Bundestag ist grotesk aufgebläht. Laut Grundgesetz sollen in ihm 598 Parlamentarier vertreten sein. Aktuell sind aber 736 Parlamentarier berufen. Um das Problem anzugehen, wurden mehrere Versuche einer Wahlrechtsreform unternommen. Die Große Koalition unter Angela Merkel hatte das Wahlrecht schon 2020 versucht zu reformieren. Dagegen hatten ehemalige und aktive Parlamentarier der FDP, Grünen und Linken geklagt. An diesem Mittwoch entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Reform aber verfassungskonform war.
Diese Entscheidung des Gerichts war jedoch keineswegs einstimmig. Drei der acht Richter hatten sich dagegen entschieden und ein sogenanntes Sondervotum abgelegt. Konkret bedeutet das, dass sie das Urteil des Gerichts nicht mittragen und diese Entscheidung in der schriftlichen Urteilsverkündung auch mitbegründen werden. Diese Ablehnungen des Gesetzes haben aber weniger mit den Regelungen und mehr mit der Form zu tun.
Warum wächst der Bundestag?
Der Bundestag bläht sich auf, weil das deutsche Wahlrecht zwischen Erst- und Zweitstimme unterscheidet. Jeder Wahlkreis entsendet den Abgeordneten mit den meisten Erststimmen in diesem Wahlkreis als Direktmandat in den Bundestag. Für diese 299 Direktkandidaten ist exakt die Hälfte der Sitze im Bundestag vorgesehen.
Die Sitzverteilung im Bundestag insgesamt wird aber anhand der Zweitstimmen festgelegt. Die Grünen zum Beispiel gewannen bei der Bundestagswahl 2021 14,8 Prozent aller Zweitstimmen: So müssen sie auch 14,8 Prozent der Mandate im Bundestag belegen. So weit, so einfach. Nach dieser Regelung stehen den Grünen damit 94 Sitze im Bundestag zu. Die Grünen gewannen 16 Direktwahlkreise, damit werden die verbleibenden 78 Plätze über die Landesliste besetzt. (Anm. d. Red.: Vereinfacht, die 5-Prozent-Hürde, garantierter Platz für den SSW u.ä. verzerrt dies weiter. Außerdem werden die Listenmandate nach den Landes-Zweitstimmenergebnissen und dem Bevölkerungsanteil in den Ländern, nicht auf Bundesebene verteilt.)
Problematisch ist in diesem Beispiel aber die CSU. Denn mit 5,2 Prozent der Zweitstimmen stehen ihr nur 34 Sitze zu. Doch die CSU gewann 45 Erstwahlkreise. Die Gewinner eines Wahlkreises ziehen immer in den Bundestag ein – also ist das Mehrheitsverhältnis in einem Bundestag von 598 Abgeordneten verzerrt, denn die Politiker der CSU haben mehr Mandate als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Diese 11 Mandate der CSU, die zu viel sind, sind die sogenannten „Überhangmandate“.
Die Lösung ist, den Bundestag zu vergrößern. Alle anderen Parteien können weitere Landeslistenabgeordnete entsenden, bis das Verhältnis der Abgeordneten wieder korrekt hergestellt wird. Dann dürfen sie weitere Abgeordnete aus anderen Bundesländern entsenden, um die regionale Verteilung der Bevölkerung zu spiegeln. 2021 bedeutete dies konkret 24 weitere Ausgleichsmandate für die Grünen. Außer der CSU erhielten auch die CDU, SPD und AfD je 11, 10 und ein Überhangmandat. Insgesamt wurden deswegen 138 Ausgleichsmandate an alle Parteien außer der CSU verteilt. Der Bundestag wuchs zur neuen Rekordgröße von 736 Abgeordneten an.
Das Problem wird immer größer
Dieser Bundestag wurde schon unter dem „reformierten“ Wahlrecht von 2020 besetzt, die Reform sollte das Problem eigentlich verringern. Doch die Überhang- und Ausgleichsproblematik wird immer schärfer.
Denn die Volksparteien CDU, CSU und SPD verlieren immer mehr Rückhalt in der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig wird der politische Markt mit immer mehr Parteien diverser. Direktwahlkreise werden zwar nach wie vor fast immer von Union oder SPD gewonnen – doch kaum ein Kandidat gewinnt einen Wahlkreis tatsächlich mit einer Mehrheit von über 50 Prozent. Stattdessen ist der Wahlkreissieger der „größte unter den kleinen“. Das bedeutet aber, dass die gewonnenen Wahlkreise und das Zweitstimmenergebnis immer weiter auseinanderklaffen. Mehr und mehr Überhangmandate entstehen, was disproportional viele neue Ausgleichsmandate verursacht.
Zwei Lösungen
Sofern das Wahlrecht nicht von Grund auf reformiert wird, gibt es zwei Reformmöglichkeiten, um den Bundestag zu verkleinern.
Zum einen kann die Toleranz im Zweitstimmenergebnis erhöht werden. Das versuchte die Reform von 2020. Danach werden Überhangmandate einer Partei mit den Listenmandaten der Partei in anderen Bundesländern verrechnet. Wenn die CDU in Hessen ein Überhangmandat erreicht, aber in Baden-Württemberg einen Listenkandidaten entsenden würde, wird der Listenkandidat nicht mehr entsendet. Die geographische Verteilung der Mandate nach Bevölkerungsanteilen wird verzerrt – aber die politische Verteilung bewahrt. Außerdem werden drei Überhangmandate pro Bundesland gar nicht mehr ausgeglichen. Das Parlament ist so zugunsten der Wahlkreisgewinner Union und SPD verzerrt.
Die andere Möglichkeit ist es, die Zahl der Wahlkreise zu verringern. Wenn künftig nicht mehr 50 Prozent der (vorgesehenen) Mandate direkt verteilt werden, fallen Überhangmandate weniger ins Gewicht. Das Gesetz von 2020 sieht ebenfalls vor, dass ab 2024 die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 240 reduziert wird. Die Zahl der vorgesehenen 599 Mandate bleibt aber bestehen.
Gegen dieses Gesetz hatten die Linke, die FDP und die Grünen eine Normenkontrollklage eingereicht. Das Gesetz missachte die Chancengleichheit der Parteien und sei zu kompliziert, als das Bürger verstehen würden, wie ihre Stimme im Bundestag zum Tragen kommen würde.
Das Gericht entscheidet über ein veraltetes Gesetz
Das Bundesverfassungsgericht entschied nun also nach der Wahl über die Rechtmäßigkeit des Wahlrechts. Über ein Gesetz, das schon nicht mehr besteht: Denn die Ampel hatte das Wahlrecht im März dieses Jahres erneut reformiert. Sollte die Bundestagswahl aber in Berlin wiederholt werden, kommt es aber noch zum Tragen.
Die Reformen spiegeln die verschiedenen Prioritäten der Parteien. Die CDU ist in den Wahlkreisen nach wie vor der Flächensieger. Entsprechend hoch schätzen die Politiker der CDU auch die Erststimme und das Direktmandat. Wer ein Direktmandat gewinnen will, der muss etwas für seinen Landkreis tun. Der muss Hasenzuchtvereine und Stammtische besuchen, Straßen bauen lassen und Bundesinstitute in seinen Wahlkreis lenken. In dieser Kunst ist die CSU unübertroffen, der Anspruch, Geld aus Berlin nach Bayern zu bringen, ist für die direktmandatierten Abgeordneten selbstverständlich.
Das ist die Schattenseite des Direktmandats, aber auch seine Stärke: Wer in Berlin Politik durchsetzt, die dem eigenen Wahlkreis schadet, der kann nicht damit rechnen, dass er wiedergewählt wird. Der Abgeordnete muss also zwischen den Interessen seiner Partei und seines Wahlkreises ausgleichen. Zumindest theoretisch wird der Willkür der Parteispitzen damit ein Abgeordneter entgegengesetzt, der auf eine starke Machtbasis im Heimatwahlkreis bauend, rebellieren kann. Die Wiederwahl ist nicht davon abhängig, ob er einen sicheren Platz an der Spitze der Landesliste erhält. Landeslisten, auf die die Parteioberen großen Einfluss haben.
In der Theorie zumindest: Die CDU-Spitze hat das Interesse an direktgewählten Abgeordneten verloren. Zu rebellisch sind sie, zu groß ist die Gefahr, dass sie vom Parteikurs abweichen. Dass die CDU während der Bundestagswahl 2021 viele ehemals sichere Wahlkreise verlor, weil die Unzufriedenheit mit der Merkel-CDU so groß war, hat die Situation nur verschärft.
Die Reform der Ampel setzt anders an. Sie sieht eine Vergrößerung des Soll-Parlaments auf 630 Sitze vor. Desweiteren wird die Grundmandatsklausel gestrichen.
Das Grundmandat ist das Pendant zur Fünf-Prozent-Hürde. Eine Partei, die weniger als fünf Prozent der bundesweiten Zweitstimmen erhält, zieht trotzdem vollwertig ins Parlament ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate erhält. Diese Partei darf dann trotzdem Parlamentarier nach ihrem Zweitstimmenergebnis entsenden UND erhält gegebenenfalls Ausgleichsmandate. Im aktuellen Bundestag erhielt Die Linke drei Direktmandate, 29 Landeslistenmandate und sieben Ausgleichsmandate.
Das wäre in Zukunft nach Willen der Ampel nicht mehr möglich. Stattdessen wäre die Linke in Zukunft nicht mehr als Fraktion im Parlament vertreten. Einzig ihre drei Wahlkreisgewinner, Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Petra Pau, wären im Parlament vertreten, denn diese Wahlkreise sind mit Zweitstimmen gedeckt. Es könnte aber auch die CSU betreffen: War sie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte unter den entscheidenden fünf Prozent auf Bundesebene, nähert sie sich dieser kritischen Marke immer mehr an.
Nach dem neuen Wahlrecht gibt es auch keine Überhangmandate mehr. Eine Partei mit Überhangmandaten verliert dann automatisch die Wahlkreise mit dem schlechtesten Ergebnis. Manche Wahlkreise bleiben dann ohne regionale Vertretung in Berlin. Um das, so weit es geht, zu verhindern, soll die Zahl der Mandate im Bundestag auf 630 steigen. Die Zahl der Direktwahlkreise bleibt aber konstant. Nur die Zahl der Listenmandate steigt.
Die Reform gewichtet die Interessen der Bundespartei deutlich stärker als der Reformversuch der Großen Koalition. Denn, wenn Listenmandate wichtiger werden, wird es für die Bundesebene einer Partei einfacher, ihre Mitglieder zu sanktionieren. Wer nicht kuscht, der wird in Zukunft auf einen schlechteren Listenplatz seiner Landesliste verbannt und so in seiner Berufspolitikerexistenz bedroht. Der in seiner Entscheidung freie Abgeordnete wird weiter geschwächt. Wobei das Wahlverhalten der Abgeordneten zeigt: Die Loyalität gilt bei den meisten schon jetzt erst der Partei, dann dem Wahlkreis.
Die regionale Vertretung von Interessen in der Bundespolitik wird weiter geschwächt: Der Bundesrat ist als Korrektiv schon weitgehend ausgehebelt, weil Parteien auf Landesebene koalieren und im Bundesrat deswegen oft Bisshemmungen zeigen. In Schleswig-Holstein regiert die CDU in der Koalition mit den Grünen. So hat es die CDU dort schwer, gegen die Projekte Habecks zu opponieren, denn der Koalitionspartner könnte verärgert sein.
Gegen die Ampel-Reform haben wiederum die CDU und die CSU, also auch Vereine und Bürger beim Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht. Die Reform, besonders der Wegfall der Grundmandatsklausel, verletzt die Gleichheit und die Unmittelbarkeit der Wahl, sowie die Chancengleichheit der Parteien. Kritisch ist dabei vor allem der Aspekt, dass Wahlkreise zwar von einer Partei gewonnen werden können – aber trotzdem keine Vertretung im Parlament haben können. Es ist eine Entwertung der Erststimme – und so auch nicht im Grundgesetz vorgesehen. Die Relevanz von Listenplätzen wird weiter verstärkt, Direktmandate verlieren an Bedeutung. Auch verschiebt sich die Parlamentsmehrheit hin zu den Listenmandaten. All das stärkt Politikkader, die sich nicht in Wahlkreisen, sondern in Parteiapparaten hocharbeiten. Die Folge zeigt sich in der Personalbesetzung der Grünen und der FDP – aber auch in SPD und CDU kippt die Gewichtung immer Weiter in Richtung der Listenpolitiker, denen Wahlkreisarbeit fremd ist.
Die jetzige Entscheidung des Gerichts kann aber wohl als Signal des Bundesverfassungsgerichts pro Wahlrechtsreform verstanden werden. Denn zur Reform von 2020 urteilten die Richter mehrheitlich, dass die Grundsätze der Chancengleichheit und Unmittelbarkeit nicht angegriffen würden. Eine gewisse Toleranz in der Abbildung der Wahlergebnisse im Bundestag wird von den Richtern also akzeptiert.
Das Ergebnis war überraschend einstimmig, obwohl drei der fünf Richter sich öffentlich gegen die Entscheidung stellen. Die Vorsitzende der 2. Kammer und Vizevorsitzende des Gerichts, Doris König, sowie Ulrich Maidkowski und Peter Müller stimmten dagegen und legten ein Sondervotum ab. Gerade Peter Müller ist dabei zu beachten, denn er ist der zuständige Berichterstatter des Gerichts für Klagen um das Wahlrecht und auch die Wahlwiederholung in Berlin. Gleichzeitig endet seine Amtszeit als Richter noch in diesem Jahr. Am 24.11. wurde Generalbundesanwalt Peter Frank auf Vorschlag der CSU im Bundesrat zu seinem Nachfolger ernannt. Ein Sondervotum bedeutet, dass ein Verfassungsrichter seine von der Mehrheit abweichende Stimme schriftlich im Rahmen des Urteils begründet. Die drei Sondervoten gehen aber im großen und ganzen positiv für die Wahlrechtsreform aus: Die Richter, auch Müller, Maidkowski und König, tragen eine gewisse Fehlertoleranz in der Abbildung der Zweitstimme im Bundestag mit, sofern sie dazu dient, den Bundestag zu verkleinern.
Sie kritisieren vor allem die Form des Gesetzes: Es ist so gemacht, so ihr Argument, dass es für den Normalbürger nicht hinreichend einfach zu verstehen ist, wie seine Stimme den Bundestag beeinflusst. Insofern kann das als Signal für die Ampel-Wahlrechtsreform gelesen werden: Das Gericht schmettert Wahlrechtsreformen nicht prinzipiell ab, sondern erkennt an, dass die Reform nötig ist und ein Regelungsspielraum gebraucht wird. Wichtig ist, dass die Bürger verstehen, was mit ihrer Stimme passiert. Ob die Regelung, dass eine Erststimme im Zweifelsfall einfach verloren geht, diese Bedingung erfüllt, wird wohl ein Streitfall in Karlsruhe sein. Ob die Ampel-Reform oder die GroKo-Reform sich am Ende durchsetzt, entscheidet jedoch über die politische Kultur des Landes. Wird das „freie Mandat“, dessen Praxis schon sehr schwach geworden ist, wieder gestärkt – oder erhalten die Parteien noch mehr Rückenwind?