Die Corona-Situation in Deutschland ist ruhig. Es kommt zu immer weniger Neuinfektionen, die Zahl der aktiven Corona-Fälle sinkt immer weiter. Doch wie ist die Situation im Rest Europas? Heute im Fokus: Westeuropa.
Belgien – zu viele Tote?
In Westeuropa – und tatsächlich sogar im europaweiten Vergleich – ist Belgien das Land, welches am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen ist. Laut Statista hat Belgien mit ca. 16,2% sogar die höchste Letalitätsrate der Welt: Der Durchschnitt liegt bei 5,9%, in Deutschland beträgt sie gar nur 4,7%. Es werden 838,7 Todesopfer pro eine Million Einwohner in Belgien gemeldet – in Deutschland sind es hingegen 105 Tote pro Million Einwohner.
Für diese hohe Sterblichkeitsrate führt Steven Van Gucht, der belgische interföderale Sprecher für Covid-19, verschiedene Begründungen an. So hat Belgien eine im Median sehr hohe Altersstruktur, was sich wiederum in einer höheren Anfälligkeit gegenüber Krankheiten wie Corona äußert. Tatsächlich beträgt das Medianalter in Belgien jedoch 41,7 Jahre – weniger als das europaweite Medianalter (43,3 Jahre) und deutlich weniger als das Medianalter in Deutschland (46,0 Jahre).
Der Median ist ein Mittelwert, ähnlich dem Durchschnitt, der sich allerdings durch eine etwas geringere Genauigkeit auszeichnet, aber im Gegenzug durch extreme Ausreißer (wie zum Beispiel eine kleine Gruppe extrem alter Menschen) weniger stark verzerrt wird.
Auch ein Faktor ist – so Van Gucht – die hohe Besiedlungsdichte Belgiens. So leben in Belgien ungefähr 375 Personen auf einem Quadratkilometer. Das ist der dritthöchste Wert Europas, nur in den Niederlanden (504 Personen/km²) und in Malta (1.548 Personen/km²) leben die Menschen noch enger aufeinander. Allerdings melden weder Malta noch die Niederlande auch nur annähernd hohe Opferzahlen: Malta zum Beispiel nur neun Opfer – was angesichts der kleinen Bevölkerung des Inselstaats 18,6 Opfer pro eine Millionen Einwohner bedeutet.
Wie die obige Graphik zeigt, kommt es tatsächlich zu signifikant mehr Todesfällen in Belgien als „normalerweise“ zu erwarten ist. Wenn überhaupt kommt es wegen dieser Zählweise wohl eher zu einer leichten Überschätzung der Corona-Opfer in Belgien als einer Unterschätzung – denn wie das Beispiel Großbritannien zeigt, kann es auch andere Ursachen als eine Corona-Erkrankung geben, als „nur“ eine Corona-Infektion.
Vereinigtes Königreich – Übersterblichkeit nicht nur wegen Corona
Anders als Belgien zählt das Vereinigte Königreich nur Corona-Fälle, für die ein positiver Labortest vorliegt – und auch das ist schon die erweiterte Zählmethode, denn bis zum 29. April wurden nur solche Todesfälle gezählt, die in Krankenhäusern stattfanden UND für die ein positives Testergebnis vorlag. Die Todeszahlen sind also nicht ohne weiteres mit den belgischen vergleichbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die vier Großbritannien konstituierenden Landesteile nicht alle immer die gleichen Zählweisen verwenden: Im bevölkerungsreichen England wurde zum Beispiel später als in den anderen Ländern angefangen, auch außerhalb von Krankenhäusern Verstorbene in die Statistik mit einzubeziehen. Diese Daten wurden zwar nachträglich korrigiert, machen die Lage aber nicht weniger unübersichtlich. Die bei Eurostat verfügbaren Sterbedaten für Großbritannien sind auch sehr lückenhaft.
Ein Bericht des Nationalen Statistikamts (ONS) untersuchte jedoch die Todesfälle die in England und Wales im Zeitraum von der 11. Kalenderwoche bis zur 18., bei denen kein positiver Corona-Test vorlag.
Für diesen Anstieg der Sterblichkeit werden fünf Erklärungen genannt:
1. Altersschwäche, Demenz und Alzheimer und andere Vorerkrankungen (Asthma, Diabetes etc.) teilen Symptome mit Corona. Es ist möglich, dass zu wenig Corona-Fälle diagnostiziert wurden, weil die Symptome einer Vorerkrankung die Symptome einer Corona-Erkrankung überlagern. Auch können nicht diagnostizierte Corona-Erkrankungen schon geschwächte Personen so sehr weiter geschwächt haben, dass sie bereits existierenden Vorerkrankungen erlagen – ein solcher Fall wäre ein Corona-bedingter Todesfall, der nicht als solcher erkannt wird.
2. Das Aufschieben von Behandlungen, weil Patienten sich nicht in die Krankenhäuser trauen – sei es aus Furcht vor einer Infektion oder weil sie die Krankenhäuser nicht weiter belasten wollen. Gerade bei Kreislauf- und Herzerkrankungen, Schlaganfällen und Blinddarmentzündungen ist eine zeitnahe Behandlung allerdings kritisch. Erfolgt sie nicht, steigt die Sterblichkeit unter den Betroffenen. Es gibt Hinweise, dass dies tatsächlich eine Erklärung für einen Teil der nicht-Corona-bedingten Übersterblichkeit ist.
3. Eine Reduktion in der Krankenhauskapazitäten, weil Betten für Coronainfizierte freigehalten wurden, hätte dazu führen können, dass Menschen, die sonst überlebt hätten, starben. Dafür gibt es allerdings noch keine Beweise. Stattdessen war zu beobachten, dass Todesfälle die sich sonst im Rahmen einer Sterbebegleitung in Krankenhäusern ereigneten, sich in Privatwohnungen und Pflegeeinrichtungen verlagerten. Es ist allerdings möglich, dass es zu einer erhöhten Sterblichkeit von Patienten kommt, die an langfristigen Erkrankungen leiden, welche nicht in dem Maße wie sonst behandelt wurden. In diesem Fall wird eine Übersterblichkeit aber erst in der Zukunft sichtbar sein.
4. Ein Anstieg an Suiziden, Gewallt, Drogenmissbrauch, Alkoholvergiftungen und anderen Todesursachen, die unmittelbar durch den Lockdown ausgelöst wurden. Doch wegen des vergleichsweise langen Meldeverzugs in solchen Fällen waren die Statistiker nicht in der Lage, eine Aussage dafür oder dagegen zu treffen. Gerade in diesen Fällen dauert es oft lange, bis eine Todesursache per zeitaufwendiger Obduktion abschließend festgestellt ist.
5. Die Effizienz, mit der Todesfälle an offizielle Stellen gemeldet wurden, hat zugenommen. Es kommt also zu weniger Meldeverzug, womit kurzfristig die Zahl der neu gemeldeten Todesfälle steigt – auch wenn sie sich auf lange Sicht wieder normalisiert. Obwohl es anscheinend tatsächlich zu einer Verkürzung des Meldeverzugs gekommen ist – besonders bei Corona-Fällen – , ist dies wohl nicht der treibende Faktor in der Übersterblichkeit des untersuchten Zeitraums.
Frankreich: Hohe Übersterblichkeit für einen kurzen Zeitraum
Obwohl Frankreich in der deutschen Berichterstattung einen sehr prominenten Platz einnimmt, ist es im westeuropäischen Vergleich „nur“ auf Platz drei – trotzdem galten dort strengere Einschränkungen als in Großbritannien und in Belgien. In Belgien und Großbritannien kam es auf Ebene einzelner Krankenhäuser zu Engpässen der Intensivbetten – was sich durch eine regionale Umverteilung der Erkrankten beheben ließ. In Frankreich allerdings mussten Patienten aus dem Osten des Landes in andere Landesteile oder gar Nachbarstaaten gebracht werden, weil die Kapazitäten großflächig ausgeschöpft waren. Auch wurde zumindest im Elsass zeitweise eine systematische Triage betrieben – es wurden Patienten mit schlechten Überlebenschancen, häufig aufgrund ihres Alters, nicht mehr künstlich beatmet oder überhaupt nicht intubiert. Stattdessen wurde eine Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln durchgeführt. Das Französische Gesundheitsamt gibt einen regelmäßigen Bulletin zur Lage heraus.
Aus besagtem Bulletin ist folgende Graphik entnommen:
Die rote Linie beschreibt, wie viele Tode zu einem bestimmten Zeitpunkt in Frankreich erwartet werden. Die Schwarze Linie zeigt die tatsächliche Zahl der Verstorbenen. Die grünen Linien beschreiben jeweils Intervalle von zwei Standardabweichungen. Die oberste grüne Linie beschreibt acht Standardabweichungen vom Erwartungswert. Als Faustregel gilt (mit Einschränkungen wie bei jeder Faustregel): Weicht ein Wert mehr als zwei Standardabweichungen von dem erwarteten Wert ab, so ist dies ein Ausreißer – ein sehr ungewöhnlicher Wert. (In einer normalverteilten Statistik liegen 95% aller Werte innerhalb von zwei Standardabweichungen des Mittelwerts). Überschreitet die schwarze Linie (die tatsächlichen Todesfälle) also die unterste grüne Linie, bedeutet dies, dass ungewöhnlich viele Personen versterben.
Tatsächlich sind extreme Ausreißer, extreme Häufungen von Todesfällen, mit ziemlicher Regelmäßigkeit zu beobachten: Die Spitzen, die mit Ausnahme vom Frühjahr 2016 jedes Jahr zu beobachten sind, beschreiben die jährliche Grippewelle. Dabei kann es zu erheblichen Übersterblichkeiten kommen. Aber die Spitze, welche im Frühjahr 2020 zu beobachten ist, stellt alle anderen mit ihrer Höhe in den Schatten. Dafür war diese Phase der Übersterblichkeit von kürzerer Dauer als manche Grippeepidemie. Aber anders als bei den regulären Grippeepidemien wurde das Land in einen Ausnahmezustand versetzt; Präsident Macron verkündete gar, man befinde sich im Krieg. Von einer solchen Mobilisierung der Ressourcen und Sensibilisierung der Bevölkerung zum Thema Hygiene kann in „normalen“ Jahren kaum die Rede sein.
Wie genau die von Frankreich gemeldeten Corona-Fallzahlen sind, ist nicht ohne weiteres ersichtlich: Ob sie mit Belgien vergleichbar sind, ist also fraglich. Ganz unglaubwürdig ist es aber nicht, dass in Frankreich (bevölkerungsrelativ) weniger Personen im Zusammenhang mit Corona verstorben sind als in Belgien. Die Altersstruktur beider Länder ist sehr ähnlich: der Median-Franzose ist mit 41,8 Jahren nur ein Zehntel Jahr älter als ein Belgier. Die Bevölkerungsdichte ist in Frankreich allerdings deutlich geringer: 105,6 Personen/km², statt 375,3 Personen/km². Die Gesundheitsausgaben sind ähnlich. In Belgien werden 3.991 Euro pro Einwohner für Gesundheit ausgegeben. In Frankreich sind es 3.883 Euro pro Einwohner. (Eurostat, Daten 2017). Beachtet man Unterschiede in der Kaufkraft des Euro in beiden Ländern, sind die realen pro-Kopf-Ausgaben in Frankreich sogar etwas höher. Van Gucht führt die (bevölkerungsrelativ) niedrigere Zahl der Todesopfer in Frankreich aber auf unvollständige Zählungen zurück.
Niederlande – schlecht gezählt ist gut behandelt
Ähnlich ist die Situation in den Niederlanden. Dort sind die Menschen etwa ein Jahr älter (42,7 Jahre) und leben enger aufeinander als in Belgien: auf den Quadratkilometer kommen 504 Personen. Die Niederlande geben mehr für Gesundheit aus als Belgien, durchschnittlich 4.346 Euro pro Kopf. Insgesamt verzeichnen die Niederlande deutlich geringere Opferzahlen pro Million Einwohner: 348,8 statt 838,7 wie in Belgien. Auch hier kritisiert Van Gucht die zu niedrigen Corona-Opferzahlen im Vergleich zur Übersterblichkeit. Tatsächlich werden in den Niederlanden nur solche Todesfälle in die Statistik aufgenommen, für die auch ein positives Testergebnis vorliegt. Offiziell melden die Niederlande etwas mehr als 6.000 an Corona verstorbene Personen. Das Zentralbüro für Statistik (CBS) gibt allerdings an, dass in den Kalenderwochen 11 bis einschließlich 19 die Übersterblichkeit 32% betragen habe: In diesen neun Wochen sind ungefähr 9.000 Menschen mehr gestorben als normalerweise erwartet. Geht man also von 9.000 Corona-Toden statt circ 6.000 aus, ergibt sich ein korrigierter Wert von 522 Corona-Todesopfern pro Million Einwohner. Damit würde die Niederlande sogar noch vor den (offiziellen) französischen Zahlen liegen. Trotzdem sollte beachtet werden, dass es sich nur um eine grobe Schätzung handelt, denn wie das Beispiel Großbritannien zeigt, kann es durchaus Übersterblichkeit ohne Corona-Infektion geben. Doch es zeigt, dass der Wert von 348,8 Corona-Opfern pro Million, dem die offiziell gemeldeten Daten zugrunde liegen, eher eine untere Grenze der tatsächlichen Opferzahlen darstellt.
Interessanterweise liegt die Sterblichkeit in den jüngsten zwei Wochen etwas unter der erwarteten Zahl der Todesfälle. Inwiefern das ein Anzeichen für einen anhaltenden Trend ist, oder doch nur ein rein statistisches Phänomen, wird sich in den kommenden Wochen zeigen – denn auch in den Niederlanden gilt es den Meldeverzug zu beachten.
Irland – die Insel der Gesunden?
Im Vergleich westeuropäischer Länder steht Irland an besten da. Die Gesundheitsausgaben pro Kopf sind mit 4.395 Euro sogar die höchsten – um Kaufkraftunterschiede bereinigt liegt dieser Wert allerdings etwas unter dem belgischen. Mit 70,9 Einwohnern pro Quadratkilometer und einem Durchschnittsalter von 37,7 Jahren ist Irland das Land, von dem zu erwarten ist, dass es die geringsten Opferzahlen aufweist.
In Irland fließen auch wahrscheinliche, sowie mögliche („probable“ und „possible“) aber nicht Labor-bestätigte Fälle in die Statistik mit ein. Diese nicht bestätigten Fälle machen rund 15% aus. Es scheint also, als wären die irischen Zahlen durchaus mit den belgischen vergleichbar – und in diesem Vergleich schneidet Irland sehr gut ab.
Seit Montag befindet sich Irland in Phase zwei der Lockerungen des Lockdowns, der seit Ende März besteht. Zwischenzeitig war es nicht erlaubt, sich zum Zweck des Sports oder nicht dringender Erledigungen mehr als zwei Kilometer von der eigenen Wohnung zu entfernen – diese Regel ist seit Montag auf 20 Kilometer ausgeweitet. Veranstaltungen mit bis zu 15 Personen sind nun erlaubt. „Essentielle“ Geschäfte, sowie solche deren Verkaufsfläche hauptsächlich im Freien ist, dürfen schon seit Mitte Mai wieder öffnen, nun dürfen das auch andere.
In Irland zeigt sich allerdings wieder, wie sehr die Tödlichkeit des Virus vom Alter abhängig ist. Das jüngste, bekannte Opfer in Irland war 17 Jahre alt, das älteste 105; doch im Median sind die Verstorbenen 84 Jahre alt – während das mediane Alter infizierter Personen bei 48 Jahren liegt.