Weit über 90 Prozent der über 80-Jährigen sind vollständig geimpft. Die Politik nahm die Vulnerablen aus dem Fokus der Maßnahmen und erklärte stattdessen die Ungeimpften zur eigentlichen Problemgruppe der Pandemie. Und während die Inzidenz neue Rekordwerte annimmt, beschränkt sich die Bundesregierung im Wesentlichen auf Maßnahmen, um die „Impflücken“ zu schließen – ganz nach dem Motto: Hätten wir die 20 Prozent Ungeimpften nicht, gäbe es diese Pandemie nicht mehr.
Angesichts der Rekord-Inzidenzen gibt es in Deutschland im Vergleich zu den letzten Wellen immer noch sehr wenige Tote zu beklagen, auch wenn die täglichen Todeszahlen langsam ansteigen:
Wo findet dieser Anstieg statt? In der letzten Kalenderwoche, für die Daten vorliegen (8. bis 14. November 2021) gab es 192 Corona-Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. Tendenz: steigend. Diese Fälle schlagen sich direkt im Krankheitsgeschehen nieder. 63 Prozent der Corona-Toten in der letzten Woche, für die das RKI Zahlen ausweist (25. bis 31. Oktober), waren über 80 Jahre alt. So hoch war dieser Anteil seit Weihnachten 2020 – also in der Hochphase der 2. Welle – nicht mehr. Damals war noch überhaupt keine Impfung im Einsatz. Wenn sich der Trend fortgesetzt hat – wovon auszugehen ist –, dann wäre der Anteil der über 80-Jährigen an den Corona-Toten heute bereits auf einem Rekordhoch.
Der Altersmedian der verstorbenen Covid-19-Fälle steigt rasant an und liegt Anfang November (hier wird der letzte Wert vom RKI ausgewiesen) bei 84 Jahren und damit fast auf einem Allzeit-Hoch – der Anteil der über 80-Jährigen an den hospitalisierten Fällen übertraf die Zahlen aus dem Dezember 2020 und dürfte demnächst ein Allzeit-Hoch erreichen.
Das Krankheitsgeschehen wird jetzt stärker von hochvulnerablen Gruppen geprägt als im ganzen Jahr 2021, vielleicht stärker als jemals zuvor – es tritt das genaue Gegenteil von dem ein, was angesichts der enorm hohen Impfquote in diesen Altersgruppen zu erwarten wäre.
Der Schwerpunkt der Pandemie bleiben eben die Pflegeheime, nicht die Ungeimpften. Bei den über 60-Jährigen sind 61 Prozent der symptomatischen Fälle doppelt geimpft und 42 Prozent der Toten – und das nach Statistik des RKI, die als aktuellsten Zeitraum nur den 18. Oktober bis 11. November ausweist. Seitdem dürfte sich der Trend nochmal deutlich verstärkt haben.
Die Durchimpfung der letzten verbliebenen 20 Prozent der Bevölkerung hilft gegen diese Probleme wenig. Will man die Todeszahlen niedrig halten, so braucht es nicht den großen gesamtgesellschaftlichen Vorschlaghammer, um „die Welle“ zu „brechen“, sondern spezifische Maßnahmen insbesondere in den Alten- und Pflegeheimen. Hier kann man sich ganz offensichtlich nicht auf die Impfung verlassen.
Einen richtigen Schritt ist die Politik beim letzten Ministerpräsidentengipfel immerhin gegangen: Auch geimpfte Bewohner und Pflegekräfte müssen sich nun regelmäßig testen lassen. Die Frage, wie solche Maßnahmen am Ende umgesetzt werden können, bleibt dabei allerdings offen. Die großangelegten Schutzkonzepte der Politik können die in weiten Teilen unterbesetzten Pflegebetriebe oftmals überhaupt nicht umsetzen. Das Personal ist auch so in den meisten Heimen bereits überlastet, die Durchsetzung weiterer Hygiene- und Testregeln ist kaum zu leisten. An diesem grundsätzlichen Problem hätte die Bundesregierung viel früher ansetzen müssen – dafür ist es jetzt zu spät.
Doch statt aus dieser Situation nun das Beste zu machen, drängt man auf einen Schritt, der die Lage weiter dramatisch verschlimmern würde: die allgemeine Impfpflicht für Pfleger. Die Infektionsketten wird man damit nicht brechen können – die Impfung bietet nun mal keine sterile Immunität, das ist längst bekannt. Aber die Personalnot wird man damit nur weiter verschärfen – die Maßnahme wäre damit nicht nur eine zusätzliche Belastung von Pflegern unabhängig ihres Impfstatus, sondern auch gefährlich, was die gesundheitliche Situation der Bewohner angeht. Wo die Not regiert, wird man kaum strenge Hygieneregeln einhalten können.
Weder ein ungeimpfter und kerngesunder Profifußballer noch Schulkinder sind daran schuld, wenn mehr Menschen in diesem Winter an Corona sterben – wenn schon, dann ist es die Politik, die es in den letzten Jahren versäumt hat, die notwendigen Reformen in der Pflege auf den Weg zu bringen.