Der Lockdown schwindet bundesländerweise. Die Debatte über Sinn und Schaden der Staatsmaßnahmen kommt gerade erst richtig in Gang. Dabei geht es nicht immer feinsinnig zu, sondern zuweilen ziemlich grob, etwa im Streit zwischen dem Virologen Christian Drosten, der BILD und dem Biochemiker Alexander Kekulé. Ihre Auseinandersetzung konzentriert sich auf eine Untersuchung Drostens über die Menge der SARS-Cov-2-Viren, die Kinder in sich tragen. Seine Zahlen führten zur langen Schließung von Schulen und Kindertagesstätten. Zu Recht? Die BILD stellte Drosten etliche Fragen und setzte ihm eine sehr kurze Frist von einer Stunde zur Antwort – was ein Medium in einer Wissenschaftsdebatte nicht tun sollte. Drosten veröffentlichte die Fragen der Zeitung samt Handynummer des Redakteurs. Was auch ein nervöser Virologe nicht tun sollte. Es handelt sich nicht nur um einen wissenschaftlichen Diskurs über Virenlasten. Sondern auch um Renommee, politische Deutungshoheit und volkswirtschaftliche Schäden.
Anfang Mai veröffentlichten zwei Redakteure des Norddeutschen Rundfunks aus der Abteilung Investigation einen Text mit der Überschrift „Neun verlorene Jahre“.
Neun Lebensjahre, lautet ihre Aussage, habe jedes Corona-Opfer in Deutschland durch seinen Tod verloren.
Aus dieser dramatischen Zahl folgern sie: Wer die staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie in Frage stellt, redet menschliches Leid klein. Im Mai veröffentlichte auch das Statistische Bundesamt Sterbezahlen für die ersten Monate des Jahres 2020. Es sind in Corona-Zeiten politische Daten. Sie zeigen eine leichte „Übersterblichkeit” für die Wochen von Covid-19 von drei Prozent. Statt in die Tiefen der Drosten-Kontroverse soll dieser Text in das Gewitter der Lebenszeit-Zahlen führen – auch deshalb, weil der NDR-Text „neun verlorene Jahre“ prototypisch für die gegenwärtige Deutungsdebatte steht. Wie kommt die wuchtige Zahl der neun verlorenen Jahre zustande? Was sagt sie aus? Was sagen sie vor allem über den Sinn der staatlichen Corona-Maßnahmen? Eine Warnung vorab: Es folgt ein Stück über Zahlen und statistische Tücken, das womöglich weniger saftig ausfällt als ein Meinungskampf auf Twitter.
„Sterben am Coronavirus nur Alte und Schwache? Einige behaupten dies. Auch Grünen-Politiker Boris Palmer hatte sich ähnlich geäußert. Eine Analyse des NDR zeigt aber: Viele an Corona Verstorbene hätten wohl noch lange gelebt“, schreiben die beiden NDR-Mitarbeiter Björn Schwentker und Jan Lukas Strozyk auf tagesschau.de. Es handelt sich also um das bei dem öffentlich-rechtlichen Sender beliebte Formate des ‚Faktenchecks’: Eine Behauptung soll auf ihren Gehalt untersucht werden. Jedenfalls wirkt es so. Allerdings nur auf den ersten Blick.
Die Autoren legen sich eine Behauptung zurecht: „Am Coronavirus sterben nur Alte und Schwache“, beantworten aber die Frage nicht: Wer sagt das überhaupt? „Einige behaupten dies“, behaupten die NDR-Redakteure, ohne jemand zu nennen. Wofür es auch einen guten Grund gibt: Denn in Wirklichkeit behauptet kein relevanter Diskussionsteilnehmer weit und breit, dass an dem Corona-Virus nur Alte und Schwache sterben. Tatsache ist, dass überwiegend alte Menschen an beziehungsweise mit Covid-19 sterben, von denen wiederum sehr viele an mindestens einer Vorerkrankung litten. Für beides gibt es wiederum Belege, die kaum ernsthaft angezweifelt werden können: 86 Prozent der an beziehungsweise mit Covid-19 Verstorbenen in Deutschland sind laut Statistik des Robert-Koch-Instituts 70 Jahre und älter.
Am stärksten vertreten in der Todesfallstatistik ist die Altersgruppe von 80 bis 89 Jahren. Zu den Vorerkrankungen existieren Untersuchungen mehrerer Mediziner, etwa des Leiters der Rechtsmedizin am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) in Hamburg Klaus Püschel: Von den 133 im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen, die er obduzierte, litten alle an mindestens einer Vorerkrankung. Ähnliche Untersuchungen aus Deutschland und anderen Ländern bestätigen durchweg diese Grundaussage.
Also: Anders als von dem NDR-Duo suggeriert behauptet niemand, dass nur Alte und Schwache an Covid-19 sterben. Es handelt sich um das, was im Englischen straw man argument genannt wird – sie arbeiten sich an einer Aussage ab, die so in Wirklichkeit niemand trifft. An diese Pseudoaussage koppeln die Redakteure dann den Satz: „Auch Grünen-Politiker Boris Palmer hatte sich ähnlich geäußert.“ Nämlich ähnlich im Vergleich zu ihrem Strohmann. In ihrem Text zitieren sie einen Satz aus einem Interview Palmers mit Sat1: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“
Diesen und sehr oft nur diesen einen Satz hatten etliche Medien aus dem Palmer-Interview zitiert, meist mit der Suggestion, der Grünen-Politiker habe gefordert, für alte und vorerkrankte Corona-Infizierte medizinisch nichts mehr zu tun. Im Zusammenhang des Interviews wird allerdings deutlich, was er tatsächlich vorschlägt, nämlich die unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Risikogruppen. Konkret: Er fordert, die Gruppen mit erhöhtem Risiko, vor allem Patienten in Alten- und Pflegeheimen bestmöglich zu schützen, dafür aber die deutlich weniger gefährdeten Jüngeren nicht weiter mit einer rigiden Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zu belasten. Palmers Satz lautet vor allem nicht: ‚Alle an Covid-19 Erkrankten wären sowieso in einem halben Jahr tot gewesen.‘
Wozu attackieren die NDR-Redakteure überhaupt einen Strohmann und einen aus dem Kontext gerissenen Satz eines Politikers? „Die Diskussion um Lockerungen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus ist zu einem verhärteten Meinungskampf geworden“, schreiben Schwentker und Strozyk: „Oft wird dabei behauptet, was politisch opportun ist – auch wenn es keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür gibt.“ Ein verhärteter Meinungskampf: da liegt das Problem. Denn in ihrem Text über die neun verlorenen Jahre drängt sich der Eindruck auf, dass es ihnen vor allem darum geht, die staatlichen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung zu rechtfertigen, und das, ohne zwischen den Maßnahmen überhaupt zu unterscheiden. Das Verbot von Großveranstaltungen und Quarantäneregeln haben sich als sinnvoll erwiesen – TE hatte sie übrigens schon am 13. März thematisiert.
Die Stilllegung von Wirtschaft halten mittlerweile etliche Wissenschaftler für eine teure Symbolpolitik, die sich kaum auf den verlauf der Infektionen auswirkte. Zu diesem Schluss kommen etwa das bundeseigene Institut für Arbeit und Beschäftigungsmarkt, die ETH Zürich und J.P. Morgan. Was die beiden NDR-Autoren völlig aus den Augen verlieren: Die Frage, wie viel Lebenszeit ein Corona-Tod vernichtet, sagt nichts über den Sinn der Corona-Maßnahmen aus. Dass Covid-19-Infektionen Leid mit sich bringen, bestreitet niemand. Der Punkt ist, dass dieses Leid gegen die Kollateralschäden eines wochenlangen wirtschaftlichen Stillstands abgewogen werden muss.
Am Anfang der Corona-Eindämmung – daran muss gelegentlich wieder erinnert werden – stand nicht die absolute Vermeidung von Kranken und Toten, sondern die Abflachung der Infektionskurve, um einen damals noch befürchteten Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Damit (und nur damit) wurden alle Maßnahmen begründet.
Aber trotzdem zurück zu den verlorenen Jahren: Das NDR-Duo glaubt, einen wissenschaftlichen Nachweis gefunden zu haben, der belegen soll, dass die an beziehungsweise mit Covid-19 Verstorbenen in Deutschland im Schnitt „neun Lebensjahre verloren“ haben – nämlich eine statistische Abschätzung von mehreren Wissenschaftlern der Universität Glasgow, die zu dem Ergebnis kommt, dass die an/mit Covid-19 Verstorbenen im Schnitt noch eine Lebenserwartung von 14 (Männer) beziehungsweise 13 zusätzlichen Jahren (Frauen) gehabt hätten. Die reine statistische Differenz zwischen Sterbealter des Einzelnen und durchschnittlicher Lebenserwartung für den Jahrgang lässt sich leicht feststellen.
Eine unmittelbare Aussagekraft hätte diese Differenz allerdings nur dann, wenn die Verstorbenen mit ihrem Gesundheitszustand – von der Covid-19-Infektion abgesehen – repräsentativ für ihre Altersgruppe wären. Dafür spricht nach Befunden wie denen des Gerichtsmediziners Klaus Püschel wenig bis nichts. Wie viel Lebenszeit den Covid-19-Opfern durch den Tod tatsächlich genommen wurde, das ließe sich nur mit sehr feinem Besteck mit Blick auf die jeweiligen Vorerkrankungen und Lebensgewohnheiten ermitteln, außerdem mit Blick auf die Therapie selbst. Denn die Frage, ob intensivmedizinische Beatmung bei Patenten möglicherweise mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat, wird zurzeit unter Medizinern heftig debattiert.
Aber gerade mit dieser Feinarbeit hielten sich die Statistiker aus Glasgow nicht auf. Sie nahmen für Vorerkrankungen pauschale Abschläge vor, und kommen so auf 13 beziehungsweise 11 verlorene Jahre für Männer beziehungsweise Frauen. Nach ihrer Annahme verringern also selbst mehrere chronische Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck die Lebenserwartung nur unwesentlich. Als Ausgangsmaterial ihrer Untersuchung verwenden sie Todesfall-Daten in Italien, die sie mit allgemeinen Lebenserwartungszahlen abgleichen. Das Forscherteam weist selbst darauf hin, es habe Unterschiede im Lebensstil von Land zu Land nicht mit einbeziehen können. Die Untersuchung sei eine erste schnelle Abschätzung unter Zeitdruck: „Angesichts der akuten Natur der Corona-Pandemie wurde diese Untersuchung schnell und unter Zeitdruck durchgeführt.“ („Finally, given the emergent nature of the coronavirus pandemic, this study was conducted rapidly and under pressure of time.“)
Trotz dieser Unsicherheit, auf die selbst die Autoren der Untersuchung hinweisen, rechnen die beiden NDR-Redakteure die Ergebnisse der Abschätzung auf Deutschland um – und kommen dabei auf den Verlust von durchschnittlich neun Lebensjahren pro Corona-Toten. „Neun Lebensjahre verloren“ – diese Aussage bildet dann, siehe oben, die plakative Überschrift ihres Beitrags. Anders als der von ihnen kritisierte Boris Palmer, der in seinem Satz ein „möglicherweise“ benutzt, verwenden sie keinerlei Relativierung. ‚Neun verlorene Jahre’ steht bei ihnen als Erkenntnis fest. Es fehlt auch jeder Hinweis auf die Unsicherheit und die schnelle Durchführung, die sich in der Untersuchung aus Glasgow selbst findet.
Dass Covid-19 Leben und Lebenszeit kostet, bestreitet außer Strohpuppen sowieso niemand. Die Fragestellung taugt wie gesagt auch gar nicht dazu, Nutzen und Schaden des Lockdown in Deutschland gegeneinander abzuwägen. Trotzdem ist der Punkt der verlorenen Jahren nicht uninteressant, denn er führt zu der Frage der so genannten Übersterblichkeit – also der Zahl von Todesfällen, die über den statistischen Schnitt der vergangenen Jahre hinausgeht. Wäre die Annahme richtig, dass die meisten der Covid-19-Toten noch lange zu leben gehabt hätten, dann müsste sich die Pandemie in Deutschland auch in der Sterblichkeitsstatistik niederschlagen. Genau das hatte das statistische Bundesamt für die Kalenderwochen 13 bis 17 auch festgestellt: eine insgesamt leichte Übersterblichkeit von drei Prozent über dem Schnitt des Vergleichszeitraums von 2016 bis 2019.
Zeigen sich hier die Corona-Toten als statistischer Effekt? Nein, beim näheren Hinsehen so gut wie gar nicht. Denn erstens leben heute in Deutschland gut eine Million Menschen mehr als 2016. Sehr stark zugenommen hat die Zahl der über 80-jährigen, und zwar um eine halbe Million auf 5,4 Millionen verglichen mit dem Durchschnitt der Jahre 2016-2019. Zusammengefasst heißt das: Die deutsche Bevölkerung ist sowohl gewachsen wie auch gealtert. Und vor allem der starke Zuwachs der über Achtzigjährigen um 11 Prozent lässt die Sterbezahlen erwartbar steigen.
TE fragte Friedrich Breyer, Professor für Volkswirtschaft und Statistikerxperte an der Universität Konstanz. Zur Frage der verlorenen Lebensjahre errechnet er aus den Daten der Corona-Covid-19-Verstorbenen des Robert-Koch-Instituts für Männer einen rein nominellen Verlust der Lebenszeit von 8,4 Jahren. Das kommt der Berechnung der NDR-Redakteure nahe – allerdings eben nur unter der Annahme, dass selbst schwere Vorerkrankungen die Lebenserwartung so gut wie gar nicht schmälern.
Ein Beispiel zeigt die Tücken der Statistik: Bei dem jüngsten mit Covid-19 Verstorbenen, den der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel obduzierte, handelte es sich um einen 31jährigen Mann mit Krebs im Endstadium, der sich schon in Palliativbehandlung befand. An reiner Lebenserwartung für seine Altersklasse bringt er Jahrzehnte in die Gesamtberechnung der verlorenen Jahre ein. Faktisch betrug seine Lebenserwartung auch ohne Covid-19 nur wenige Wochen. Das Exempel zeigt die Schwäche der reinen Durchschnittsberechnung: sie fasst sehr viele verschiedene Einzelfälle mit einem sehr groben Muster zusammen.
Zu der Übersterblichkeit sagt Friedrich Breyer: „Die starke Zunahme für die Gruppe der über 80jährigen von 11 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum erklärt die statistische Übersterblichkeit der Wochen 13 bis 17 fast vollständig. Rechnet man sie heraus, dann bleibt fast nichts übrig.“ Zu der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes meint er: „Ich unterstelle keine Absicht. Aber in meinen Augen ist es eine Schlamperei, diese Zahlen ohne Hinweis auf die Sonderfaktoren herauszugeben.“
Für alle Wochen des Jahres 2020 seit dem 1. Januar starben übrigens – verglichen mit dem Durchschnitt der letzten vier Jahre – in der Altersgruppe 65-80 Jahre sogar sieben Prozent weniger; in der Altersgruppe über 80 bereinigt um die Zunahme die Gruppe sogar 8,5 Prozent weniger. Das heißt: für das erste Quartal des Corona-Jahres ergibt sich bereinigt um die Sondereffekte sogar eine leichte Untersterblichkeit. Das muss noch nichts für die Zahlen des gesamten Jahres sagen. Der Autor dieses Textes plädiert hier wie in früheren Beiträgen dafür, spätere Zahlen abzuwarten, sie unter die Lupe zu nehmen und jedem Diskussionsteilnehmer einen Unsicherheitsbereich zuzugestehen.
Aber bis jetzt zeigt sich, anders als für Italien und Spanien mit ihren hohen Opferzahlen, für Deutschland keine dramatischen Effekte von Covid-19 – so tragisch jeder einzelne Todesfall ist.
Hätten die beiden NDR-Redakteure einfach über die Untersuchung der Uni Glasgow berichtet, deren Schwächen erwähnt und die Betrachtung so eingebettet wie oben nachzulesen, dann wäre das ein Diskussionsbeitrag gewesen. Stattdessen versuchen sie als Meinungskämpfer zu widerlegen, was niemand behauptet, reißen polemisch einen Satz aus einem Politikerinterview und verkünden apodiktisch die Zahl der neun Jahre, einen statistischen Wert, der wenig sagt.
Aber genau so dürften in den nächsten Monaten viele mediale Debatten um Corona und die staatlichen Maßnahmen verlaufen: erst kommt die These (die staatlichen Maßnahmen waren richtig, inklusive Stilllegung der Wirtschaft). Dann folgen Zahlen und Argumentationsbausteine, die das belegen sollen.
Wer in dieser Reihenfolge argumentiert, der verdient Misstrauen.