In der Sendung „Hart aber fair“ vom 10. Januar 2022 meinte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, nicht der Lockdown, sondern die Pandemie an sich sei verantwortlich für die Zunahme psychischer Störungen. Dem widerspricht nun einer der wichtigsten deutschen Depressionsexperten – der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Ulrich Hegerl.
„Von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wurden vor und während der Pandemie im Rahmen einer Serie repräsentativer Bevölkerungsbefragungen jeweils mehr als 5.000 Erwachsene befragt“, so Hegerl. „Die Ergebnisse bestätigen: der Anteil der Befragten, die angaben, dass bei ihnen bereits einmal eine Depression diagnostiziert worden sei, zeigte keine sehr deutliche Steigerung während der Pandemie (2017: 23 Prozent, 2019: 21 Prozent; 2020: 21 Prozent, 2021: 23 Prozent).“
Ganz anders, so der Wissenschaftler, stehe es aber um die Situation der über fünf Millionen Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression leiden. Im September 2021 gaben im „Deutschland-Barometer Depression“, das auf einer Befragung von Betroffenen durch die Stiftung beruht, 72 Prozent der depressiv Erkrankten an, dass sich in den letzten sechs Monaten ihre Erkrankung durch die Maßnahmen gegen Corona deutlich verschlechtert habe. Einen Rückfall, so Hegerl, erlitten demnach 29 Prozent, Suizidgedanken entwickelten 20 Prozent. Von einer Zunahme der Depressionsschwere berichteten 35 Prozent der Befragten. „Hochgerechnet betrifft dies mehr als zwei Millionen Menschen – und in Anbetracht der Schwere dieser Erkrankung ist dies eine stille Katastrophe“, so Hegel. „Wie schwer die Erkrankung ist, zeigt sich daran, dass Menschen mit der Diagnose Depression im Schnitt knapp 10 Jahre weniger leben.“
Als wichtigste Ursachen der drastischen Verschlechterung sieht der Depressionsexperte die Folgen vieler Corona-Maßnahmen: Zum einen wegen der Qualitätsabnahme bei der medizinischen Versorgung, da stationäre Behandlungen abgesagt wurden und Ambulanzen das Angebot reduzieren mussten oder Patienten aus Angst vor einer Ansteckung selbst Termine abgesagt hatten, vor allem aber durch die Vereinsamung vieler Betroffener im Lockdown. „Der Rückzug in die eigenen vier Wände hat dazu geführt, dass die Mehrzahl der Menschen in einer depressiven Krankheitsphase sich weniger bewegten, sich vermehrt ins Bett zurückzogen und Schwierigkeiten hatten, den Tag zu strukturieren, verbunden mit vermehrtem Grübeln“, so der Mediziner. „Von diesen drei Faktoren ist gut bekannt, dass sie ganz spezifisch bei Depression den Krankheitsverlauf verschlechtern. Angemerkt sei nur, dass längerer Schlaf und längere Bettzeiten bei vielen Erkrankten depressionsverstärkend sind.“
Diese Daten, so die Kernaussage Hegerls, mit der er Lauterbach direkt widerspricht, „legen nahe, dass auch durch die Maßnahmen gegen Corona bei Depressionspatienten immenses Leid ausgelöst wurde. Dies wurde bisher nicht ausreichend berücksichtigt.“ Er fordert eine bundesweite Erfassung der psychischen Auswirkungen von Lockdowns und ähnlichen Eingriffen: „Das systematische und kontinuierliche Erfassen von Leid und Tod, die durch die Maßnahmen gegen Corona ausgelöst werden, ist Voraussetzung jeder Nutzen-Risiko-Bewertung derartiger Maßnahmen. Nur so kann die Sorge genommen werden, dass durch die Maßnahmen gegen Corona mehr Leid und Tod verursacht als verhindert wird.“
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.