Tichys Einblick
Nichts ist mehr unmöglich

Christine Lagarde: Markenzeichen Rechtsbruch

Drei entschlossene Franzosen fegten im Handstreich die Stabilitätsarchitektur der Währungsunion hinweg: Präsident Sarkozy, EZB-Präsident Jean-Claude Trichet sowie IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn. Christine Lagarde setzt ihr Erbe fort.

MOHD RASFAN/AFP/Getty Images

„Wir haben alle Regeln gebrochen, weil wir zusammenhalten und die Eurozone retten wollten.“ Ein solcher Satz würde dem scheidenden EZB-Präsidenten Mario Draghi nicht über die Lippen kommen. Viel zu oft war dessen Geldpolitik schließlich schon Gegenstand von Gerichtsverfahren – sei es vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe oder vor dem EuGH. Der Satz wurde im Jahr 2010 von seiner designierten Nachfolgerin gesagt: Christine Lagarde.

Lagarde war damals noch unter Nicolas Sarkozy französische Finanz- und Wirtschaftsministerin. Alle Regeln wurden damals gebrochen, um Griechenland und später auch eine Reihe weiterer Schuldenstaaten vor dem Bankrott zu retten. Nachdem zunächst Anfang Mai ein Hilfspaket für Griechenland in Höhe von 110 Milliarden geschnürt worden war, wurde wenige Tage später ein 750 Milliarden Rettungsschirm geschaffen. Jetzt waren die Hilfen nicht mehr freiwillig und bilateral, sondern gemeinschaftlich und verpflichtend. Drei entschlossene Franzosen in Schlüsselpositionen hatten im Handstreich die Stabilitätsarchitektur unserer Währungsunion hinweggefegt: neben dem französischen Präsidenten Sarkozy waren dies der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet sowie IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn.

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Lagarde stand damals noch in der zweiten Reihe. Sie war aber nah genug dabei, um sich Ende 2010 gegenüber dem Wallstreet Journal mit dem oben zitierten Satz zu brüsten – mit einem Rechtsbruch. Auch später ließ Lagarde immer mal wieder ihr Rechtsverständnis durchblicken: „Vergesst den Vertrag“, hieß es dann. „Legal-illegal-scheißegal im Hosenanzug“ könnte man dazu sagen. Man könnte aber auch sagen, dass man in Frankreich eben ein anderes Rechtsverständnis hat. Regeln müssen dort im Fall der Fälle geändert und nicht etwa eingehalten werden. Erst vor wenigen Tagen schrieb Reinhard Müller in der FAZ: „Für die Bundesrepublik ist das Recht wichtiger als für Frankreich – das hat Folgen“. Für Lagarde hatte das alles keine Folgen – jedenfalls keine negativen. Nachdem die Karriere Strauss-Kahns von einer Sexaffäre torpediert worden war, residierte Lagarde ab Juli 2011 als IWF-Chefin in Washington D. C. Der IWF wird von Frankreich seit jeher quasi als Erbhof angesehen. In den letzten 50 Jahren gab es acht verschiedene IWF-Direktoren, fünf davon waren Franzosen.

Nun also der Griff Frankreichs nach der EZB-Präsidentschaft, obwohl Paris diesen zentralen Posten mit Trichet bereits acht Jahre (2003-2011) besetzt hielt. Der erste und letzte EZB-Präsident aus einem stabilitätsorientierten Mitglied unserer Währungsunion war der Niederländer Willem Duisenberg (1998-2003). Die fortwährende Latinisierung des Euro hat Spuren hinterlassen. Ein Riss geht durch die Eurozone. Die EZB befindet sich in der Niedrigzinssackgasse. Das Währungsgebiet wurde mit Milliarden über Milliarden Euro geflutet.

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Lagarde ist die Fortsetzung von Draghi mit gleichen Mitteln – zumindest in der Geldpolitik. Die Kommunikation wird sich sicherlich ändern. Ab dem 1. November können wir uns auf eine „reine soleil vom Main“ einstellen. Talkshowauftritte waren Draghi, den ich hier auf keinen Fall verklären möchte, fremd. Lagarde hat sich immer schon gerne geäußert – auch zu Dingen, für die sie nicht zuständig ist. Draghi war immerhin Ökonom. Alle bisherigen EZB-Präsidenten standen zuvor einer nationalen Notenbank vor. Lagarde hingegen ist Juristin – mit zweifelhaften Rechtsverständnis. Ende 2016 wurde sie zudem in einem Rechtsstreit um Millionenzahlung an Bernard Tapie schuldig gesprochen, aber nicht bestraft. Hier ging es wenigstens noch um den fahrlässigen Umgang mit den Steuergeldern ihrer eigenen Bürger. Bald kann es für alle in der Eurozone teuer werden.

Schon als geschäftsführende IWF-Direktorin sprach sich Lagarde für einen Schuldenschnitt Griechenlands aus und sammelte damit fleißig Pluspunkte in Südeuropa. Sich als Repräsentant des IWF in Griechenland beliebt machen – das muss man erst mal schaffen! Von einer geografischen Ausgewogenheit bei der Besetzung von Spitzenpositionen ist nichts (mehr) zu merken. Die südeuropäische Prädominanz schreitet voran. Wie lange die Nord- und Osteuropäer das noch mitmachen?

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Die Besetzung des höchsten Postens bei der Europäischen Kommission war schon immer das Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Juncker, der nach eigener Aussage erste und letzte Spitzenkandidat, war niemals ein Repräsentant des Parlamentarismus der EU wie Manfred Weber, sondern von vorneherein als Eurogruppenchef der Kandidat der Staats- und Regierungschefs. Juncker ist ein gewiefter Strippenzieher, der den Kuhhandel – natürlich auch dank günstiger Wahlprognosen – vor die EU-Wahl im Jahr 2014 setzte. Ich war nie so naiv, um das nicht zu erkennen. Schlimm sind zwei Dinge. Erstens: Man gab Weber das Gefühl, dass er wirklich eine Chance hatte, um ihn dann bei der ersten Gelegenheit fallenzulassen. Das kann man und muss man in der Politik aber als Einzelschicksal abtun. Zweitens und noch viel schlimmer: die Besetzung der Spitzenposition bei der Europäischen Zentralbank wurde Teil des Kuhhandels.

Natürlich wird auf höchster politischer Ebene über solche Ämter entschieden. Auch bei der Benennung des Bundesbankpräsidenten findet keine Urwahl unter Kreissparkassenfilialleitern statt. Die Präsidentschaft dder EZB war aber nie ein Kompensationsgeschäft, ein Trostpflaster oder eine zu verschachernde Restgröße – und auch kein französischer Erbhof wie der IWF.

Als IWF-Chefin ist Lagarde natürlich mit der internationalen Finanzwelt vertraut. Es hätte der EZB aber sehr gut getan, ein wenig Distanz von der (Tages-)Politik zu bekommen. Im EZB-Direktorium steht Lagarde zudem Luis de Guindos als Vizepräsident zur Seite. Auch er ist als ehemaliger spanischer Wirtschaftsminister ein Abkömmling der Politik. Der Spagat zwischen Wirtschafts- und Finanzpolitik einerseits sowie Geldpolitik andererseits wird immer schwieriger.

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Lagarde hat Draghi immer wieder in dessen – in meinen Augen falschen – Geldpolitik bestärkt. Draghis Notfallmaßnahmen sind zum Dauerzustand geworden. Während der Kauf von Staatsanleihen in Deutschland scharf kritisiert wurde und sogar vor Gericht landete, kam von IWF-Chefin Lagarde immer Applaus für Draghis „whatever it takes“-Maßnahmen, auch für die Minuszinsen. Die EZB überdehnt ihr Mandat massiv, andere sprechen von Rechtsbruch. Lagarde hält es lieber so: „Wenn ich noch einmal das Wort ,Bundesverfassungsgericht‘ höre, verlasse ich den Raum.“ Ich bin kein Jurist, Lagarde schon. Auch wenn sie nicht die Abschaffung der Gewaltenteilung fordert, sollte sie sich in ihrer Position der möglichen Wirkung ihrer Worte bewusst sein – im und ohne Kontext. Gerade als Juristin.

Und leider wird der irische EZB-Chefvolkswirt Philip Lane kein (geldpolitisches) Gegengewicht zu Lagarde bilden. Beide sind „Tauben“, also Anhänger einer weichen Geldpolitik. Nachdem Jürgen Stark 2011 als EZB-Chefvolkswirt zurückgetreten war, sagte er in einem Interview: „Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ausgerechnet die erfolgreichste europäische Zentralbank nach dem Zweiten Weltkrieg – die Bundesbank – einmal in eine absolute Minderheitenposition geraten würde. Lange galt die Bundesbank als Leitbild für erfolgreiche Geldpolitik. […] Eine solche Institution nun so ins Abseits zu stellen und Positionen, die ihr jetziger Präsident vertritt, in Europa heute beinahe lächerlich zu machen – dass all das möglich ist, bedrückt mich sehr und ist kein gutes Zeichen für die Zukunft. Wir erleben einen Paradigmenwechsel.“

Diese Aussage ist heute aktueller denn je. Man darf gespannt sein, was als nächstes kommt. Italien hat schon seine Ansprüche auf den Posten des Wirtschafts- und Währungskommissars angemeldet. Dass es nach der personifizierten Fehlbesetzung Pierre Moscovici noch einmal schlimmer kommen könnte, hätte ich nicht gedacht. Aber mit Lagardes Nachfolge auf Draghi hätte ich auch nicht gerechnet. Die sorgfältig aufgerichtete Stabilitätsarchitektur der Gemeinschaftswährung der EU ist bereits erheblich beschädigt. Unter der geplanten neuen Führung der EZB mit ihrer demonstrativen Geringschätzung verbindlicher Regeln gilt für die Zukunft: Nichts ist mehr unmöglich.

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