Tichys Einblick
Metoo in der Gastronomie

Der Fall Christian Jürgens – Gelingt dem Dreisternekoch ein Comeback?

Christian Jürgens war gefeierter Sternekoch im Restaurant Überfahrt am Tegernsee. Bis der „Spiegel“ ihm in einer reißerischen Geschichte sexuelle Übergriffe, Machtmissbrauch und noch viel mehr vorwarf. Der Restaurantbesitzer kündigte ihm – aber die Justiz stellte die Ermittlungen ein. Von Georg Etscheit und Ingo Swoboda

Symbolbild

IMAGO / Funke Foto Services

Seit den Zeiten des französischen Meisterkochs Auguste Escoffier sind Profiküchen quasi militärisch organisiert. Nicht umsonst ist von „Küchenbrigaden“ die Rede. Die Rädchen dieser streng hierarchisch nach „Posten“ geordneten Maschine müssen reibungslos ineinandergreifen. Dafür braucht es nicht nur höchste Konzentration, sondern Drill wie auf dem Kasernenhof, damit die Köche auch unter größtem Druck perfekt funktionieren. Hakt es irgendwo, kann es schnell vorbei sein mit den Meriten, mit denen sich Gourmetrestaurants gerne schmücken, weil Sterne und Hauben nicht nur Ruhm, sondern vor allem Umsatz bringen.

Die Küche eines Spitzenrestaurats muss jeden Tag mit der gleichen Präzision funktionieren und kann sich keine Durchhänger erlauben. Solche Arbeitsplätze sind keine „Wohlfühlzone“. Das hat auch die Causa Christian Jürgens wieder einmal an den Tag gebracht. Im Mai dieses Jahres verlor der für seine robuste Art der Menschenführung bekannte Dreisternekoch über Nacht seinen Posten als Leiter des Luxusrestaurants „Überfahrt“ am Tegernsee. Grund waren Vorwürfe ehemaliger Mitarbeiter wegen „unangemessenen Verhaltens“, die der SPIEGEL in einer reißerischen Story öffentlich gemacht hatte. Jürgens wies die Anschuldigungen über eine Anwältin als „unwahr“ zurück; die geschilderten Vorgänge hätten sich „zu keinem Zeitpunkt“ ereignet. Es war der erste Metoo-Skandal in der Gastroszene.

Das mittelständische Unternehmen Althoff Hotels, zu dem Hotel und Restaurant „Überfahrt“ gehören, gab Jürgens umgehend den Laufpass. Man habe sich „einvernehmlich“ getrennt, hieß es, was auf Zahlung einer Abfindung hindeutet. Seither war es still geworden um den 55-jährigen Starkoch, während der Neustart seiner einstigen Wirkungsstätte unter seinem Kollegen The Duc Ngo als „Le Duc Tegernsee“ holprig verlief. Unterdessen ist das Gastspiel des Berliner Szenegastronomen mit asiatischen Wurzeln schon wieder beendet, das Restaurant „vorübergehend geschlossen“.

Im Hintergrund lief über gute sechs Monate ein Vorermittlungsverfahren der Münchner Staatsanwaltschaft gegen Jürgens. Dieses Verfahren wurde nun eingestellt. Es gebe „keine hinreichenden Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten“, ließ die Behörde verlauten. Jürgens darf nun im juristischen Sinne – in einem Rechtsstaat zählt nur, was sich in einem rechtsstaatlichen Verfahren als wahr oder falsch erwiesen hat – als unbescholten gelten und eigentlich müsste ihm Gelegenheit zu einer Rehabilitierung und einem Neuanfang gegeben werden. So viele Spitzenleute gibt es ja nicht in einem Land, dass mehr denn je unter der Auszehrung seiner Eliten leidet.

Kann man eine Lehre aus diesem Fall ziehen? Vielleicht die, dass es eine gewaltfreie Gesellschaft nicht geben kann und nicht geben wird, vor allem in Sphären, in denen Höchstleistungen in einem sehr engen Zeitrahmen verlangt werden. Das Leben stecke voller Gewalt, sagte der US-Schauspieler John Malkovich („Gefährliche Liebschaften“) in einem im März dieses Jahres erschienenen Interview der Süddeutschen Zeitung. Man müsse „früh lernen, damit umzugehen“. Soll man das zynisch nennen – oder einfach realistisch?

In Küchen, vor allem dann, wenn sie sich dem internationalen Wettbewerb um Auszeichnungen stellen, geht es zu wie auf dem Fußballplatz, wo um den Pokal gekämpft wird. Voller Einsatz wird verlangt, es geht zur Sache, oft mit hitzigem Gemüt und brennend vor Ehrgeiz, im besten Fall wird hart aber fair, zuweilen aber auch foul gespielt. Wenn ein Team perfekt aufeinander abgestimmt ist, herrscht in einer Küche zur Stoßzeit eine Atmosphäre wie am OP-Tisch. Es geht, wenn man so will, um Leben und Tod. Köchen und Chirurgen verzeiht man keine Fehler.

Was den zwischenmenschlichen Umgang unter solchen Hochleistungsprofis anbelangt, bewegt man sich schnell auf dünnem Eis, dessen Tragfähigkeit im gesellschaftsübergreifenden Anspruch einer zivilisierten Gesellschaft und ihren sozialen und ethischen Maßstäben definiert ist. Doch alles wandelt, alles verändert sich. Was früher noch als Kavaliersdelikt durchging, ob zu Recht oder zu Unrecht, kann heute eine Empörungswelle, neudeutsch „Shitstorm“ auslösen, der erst dann abflaut, wenn der vermeintliche Delinquent öffentlich hingerichtet wurde.

Für eine Gesellschaft, oder sagen wir besser für eine laute und damit unüberhörbare aber immer mehr das öffentliche Meinungsbild prägende Minderheit, die mit politischem Rückhalt für die Utopie einer „gewaltfreien“ Gesellschaft kämpft, sind Männer in leistungsorientierten Berufen ohnehin verdächtig. Also weg mit ihnen. Und zwar so schnell wie möglich, da möchte man sich nicht mit der zeitraubenden Suche nach der Wahrheit aufhalten, die man ohnehin am besten selbst definiert.

Von Seiten der Althoff Hotels war nach Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Jürgens nichts Neues zu erfahren. Unterdessen berichtete der „Münchner Merkur“, dass der Koch im Frühjahr 2024 offenbar ein eigenes Restaurant eröffnen wolle, nur einen Steinwurf entfernt vom Hotel „Überfahrt“. Gelingt ihm ein Comeback? Oder bleibt, wie so oft in Sachen Metoo, der Ruf eines Delinquenten irreparabel zerstört, selbst wenn kein ordentliches Gericht je ein Urteil gefällt hat?


Der Beitrag erschien bereits in veränderter Form bei www.aufgegessen.info, dem gastrosophischen Blog für freien Genuss.

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