Die Bilder sehen aus wie einem dystopischen Science-Fiction-Film entnommen: Auf Flughäfen kontrollieren Polizisten Reisende mit Temperaturmessgeräten auf Fieberanzeichen. Bus und U-Bahn geschlossen, Strassen und ganze Städte abgesperrt. In luftdichten Behältnissen werden Erkrankte in Krankenhäuser weggerollt. Helfer in weißen Schutzanzügen springen aus den zahlreichen Krankenwagen und sammeln Menschen, die scheinbar kollabiert sind, auf.
Doch es ist kein Film, sondern Realität. Am 31. Dezember 2019 meldete die Gesundheitsbehörde im chinesischen Wuhan eine Häufung von Lungenentzündungsfällen unbekannter Herkunft.
Am 9. Januar 2020 berichtete die chinesische Gesundheitsbehörde CDC, dass ein neuartiges Coronavirus mit dem Namen 2019-nCoV nachgewiesen wurde. Die Betroffenen erkranken zunächst an einer schweren Lungenentzündung. Bis zum 20. Januar wurden 295 im Labor bestätigte Fälle gemeldet, davon zwei aus Thailand und jeweils einer aus Japan und Südkorea. Die Zahl steigt schnell an. Nach Schätzung von Fachleuten des Imperial College in London sollen mindestens 4000 Menschen infiziert sein, darunter auch ein Arzt und mindestens 13 Krankenschwestern. Bisher sind 26 Menschen verstorben.
Das Virus brach ausgerechnet wenige Wochen vor dem chinesischen Neujahrsfest aus. Zu diesem Fest am 25. Januar pflegen Millionen von Chinesen zu Familienfesten durchs ganze Land zu reisen – meist mit dem Flugzeug oder per Hochgeschwindigkeitszug. Kein Wunder, dass es rasch in immer mehr Ländern auftaucht wie Thailand, Japan, Südkorea und sogar in den USA. Der weltweite Flugverkehr stellt einen idealen Verbreitungsweg dar.
Chinas Behörden handeln hierbei wie aus dem Lehrbuch zur Seuchenbekämpfung, und wie sie das früher auch schon getan haben: radikales Abschotten und Einkreisen, sodass sich der Virus möglichst wenig ausbreiten kann – auch wenn man noch nicht genügend über das Coronavirus weiss.
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wäre es verfrüht, von einem internationalen Katastrophenfall zu reden. Auch beim europäischen Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in Solna (Schweden), das die »Abwehrmechanismen der EU gegen Infektionskrankheiten« stärken soll, weiss man bisher erstaunlich wenig, schätzt aber potentielle Auswirkungen und die Gefahr einer weltweiten Verbreitung als hoch ein.
Der Name des Coronavirus rührt von jenem kreisförmigen Bild her, das das Virus im Elektronenmikroskop zeigt. Es scheint nach jetzigem Kenntnisstand nicht besonders tödlich zu sein, wobei angesichts der sehr hohen Vermehrungsrate nicht auszuschließen ist, dass sich eine gefährliche Variante herausbilden kann.
Das Tückische: Coronaviren wechseln schnell Wirte, springen von Tier auf Mensch und lösen schwere Erkrankungen beim Menschen aus. Wie vor 17 Jahren, als ein neuartiges Coronavirus auftauchte, das schwere Lungenkrankheiten mit den Namen Sars (severe acute respiratory syndrome) und Mers ( middle east respiratory syndrome ) auslöste.
Wo genau das jetzige Coronavirus ausbrach, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Zuerst war die Rede von einem Fischmarkt in Wuhan. Vor allem in englischen Medien wie DailyMail.co.uk tauchen Berichte auf, die Ausbrüche in die Nähe von Biolabors und deren Arbeit rücken, was im Netz bereitwillig aufgenommen wird.
Denn in der Nähe des Fischmarktes wurde das Wuhan National Biosafety Laboratory errichtet, das bisher einzige Labor in China, in dem gefährliche Viren wie die Erreger von Sars und Ebola erforscht werden. US-Experten für Biosicherheit warnten nach dem Bericht der Daily Mail 2017 davor, dass ein Virus aus der Einrichtung »entkommen« könnte, die zum Schlüssel für die Bekämpfung des Ausbruchs geworden ist.
Das angesehene Wissenschaftsblatt Nature berichtete im Februar 2017 kurz vor der Eröffnung des Labors in Wuhan, dass einige Wissenschaftler außerhalb Chinas befürchten, dass Krankheitserreger austreten und die geopolitischen Spannungen zwischen China und anderen Nationen um eine biologische Dimension erweitern könnten. Chinesische Mikrobiologen dagegen zeigen sich stolz, im Kampf gegen die gefährlichsten Erreger mithalten zu können. »Es ist ein großes Statussymbol in der Biologie«, bewertete Tim Trevan, der Gründer von CHROME Biosafety and Biosecurity Consulting in Damaskus, Maryland, »ob es notwendig ist oder nicht«.
Bis 2025 sollen fünf bis sieben Labors der höchsten Biosicherheitsstufe 4 (BSL-4) auf dem chinesischen Festland entstehen. Hier muss die Luft gefiltert werden, Wasser und Abfall müssen behandelt werden, bevor sie das Labor verlassen, Forscher müssen vor und nach der Benutzung der Laboreinrichtungen die Kleidung wechseln und duschen. Solche Labore sind oft umstritten. Das erste BSL-4-Labor in Japan wurde 1981 gebaut, arbeitete aber bis 2015 mit weniger gefährlichen Krankheitserregern, als die Sicherheitsbedenken endgültig überwunden waren.
»Es wird mehr Möglichkeiten für chinesische Forscher bieten, und unser Beitrag zu den Pathogenen auf BSL-4-Ebene wird der Welt zugute kommen«, sagte seinerzeit George Gao, Direktor des Zentrallabors für pathogene Mikrobiologie und Immunologie der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking. Es gibt bereits zwei BSL-4-Labors in Taiwan, das nationale Labor für biologische Sicherheit, Wuhan, ist das erste auf dem chinesischen Festland.
Das Labor wurde mit französischer Unterstützung im Rahmen eines Kooperationsabkommens von 2004 über die Prävention und Kontrolle neu auftretender Infektionskrankheiten geplant und gebaut. Doch die Komplexität des Projekts, Chinas mangelnde Erfahrung, Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Finanzierung und lange staatliche Genehmigungsverfahren führten zu erheblichen Verzögerungen beim Bau. Viele Mitarbeiter des Labors in Wuhan wurden in einem BSL-4-Labor im französischen Lyon ausgebildet.
Gespannt sind Wissenschaftler, wie konsequent sich China an die verkündete neue Offenheit hält. Für eine Erhöhung der Gefahr sorgte beim Ausbruch des Sars-Erregers 2002/2003, dass chinesische Behörden lange schwiegen. Erst die beispiellose weltweite Zusammenarbeit aller Wissenschaftler über das Internet hat zu schnellen Ergebnissen geführt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Virenforschung entschlüsselten damals Forscher innerhalb einer sehr kurzen Zeit den genetischen Code des neuen Virus. Auf deutscher Seite war der Biochemiker Prof. Rolf Hilgenfeld vom Institut für Biochemie der Universität Lübeck beteiligt, der die räumliche Struktur der Sars-Virus Protease aufklärte.
Jetzt stellten chinesische Wissenschaftler rasch den um das neue Virus ergänzten »Stammbaum« sarsähnlicher Coronaviren ins Netz – mitsamt bestätigter »Fundorte«. Das neue Coronavirus gehört demnach nicht zum Sars-Hauptstamm und scheint weniger tödlich als Sars zu sein.
Doch dieser Ausbruch neuer Viren zeigt, wie gefährlich Viren werden können. Noch immer haftet im kollektiven Gedächtnis jener verheerende Ausbruch der Spanischen Grippe 1918, bei der mehr Menschen als im gesamten Ersten Weltkrieg ums Leben kamen. Erreger aus diesem Stamm verharren zum Beispiel in Geflügel und Wasservögeln und können jederzeit mit einem veränderten Genom ausbrechen.
Denn verhindern lässt sich nicht, dass diese molekularen Maschinen der Natur immer wieder ihre Form ändern und neue Wege finden, Zellen zu befallen und sich darin ausbreiten.
Wie einst im hessischen Marburg. Dort erkrankten im März 1967 mehrere hundert Menschen auf seltsame Weise. Zuerst glaubten die Ärzte an eine einfache Grippe. Die Symptome waren zunächst die Gleichen. Plötzlich trat bei den Opfern ein komplettes Versagen aller Organe auf. Sie fielen ins Koma, und manche fingen an, aus Mund und Nase zu bluten. Sieben von ihnen starben. Die Wissenschaftler fanden heraus: Ein Virus tötete die Menschen. Dieser Virus war den gefährlichen Ebola-Viren aus Afrika eng verwandt.
Das Virus hatte sich über Affen verbreitet, die aus Uganda nach Deutschland in das Marburger Labor gebracht worden waren. Die Affen wiederum waren durch Flughunde infiziert worden. Ein Forscherteam wertete alle seit 1940 verzeichneten Seuchen aus und konnte immerhin 340 nachweisen. Bei 60 Prozent der Krankheiten sprangen die Erreger von einer Tierart auf den Menschen über. Zoonosen nennen die Wissenschaftler solche Infektionskrankheiten.
Sie treten vor allem dort auf, wo Menschen besonders eng mit Tieren zusammenleben. Gerade in vielen asiatischen Höfen herrscht drangvolle Enge. Menschen leben dicht aneinander mit Hühnern, Schweinen und anderen Tieren. Die Viren können so von Tieren auf Menschen übertragen werden und vermischen dabei das Erbgut, verändern sich sehr schnell und überspringen vorhandene Barrieren zwischen den Arten.
Es ist nach Ansicht von Wissenschaftlern nur eine Frage der Zeit, bis sich hier weitere Viren so verwandelt haben, dass sie den Sprung auf den Menschen schaffen. Und doch findet gerade eine der verblüffendsten Wendungen in der Medizin rund um die Viren statt. Denn Forscher haben mit diesen Killern der Menschheit etwas völlig Neues vor: Sie wollen mit einer Geißel der Menschheit eine andere Plage der Menschheit killen: Krebs.
Ausgerechnet bei Ratten fanden Wissenschaftler ein Virus, das ein Hoffnungsträger der Medizin werden könnte. Denn es kann auch auf Menschen überspringen. Doch das tut es auf sehr ungewöhnliche – und hilfreiche Weise.
Im Deutschen Krebsforschungszentrum kamen Forscher durch Zufall auf sogenannte Parvoviren. Sie fanden das Virus in menschlichen Tumorzellen, die man Ratten eingepflanzt hatte. Das Parvovirus ist noch kleiner als andere Viren – sein Erbgut ist eine Million mal kleiner als unsere DNA.
Viren können sich bekanntlich nicht selbst vermehren. Sie brauchen dafür Bausteine aus den Zellen, die sie befallen – und menschliche Krebszellen bieten den Parvoviren ideale Bedingungen zum Wachstum. In normalen menschlichen Körperzellen passiert dagegen – nichts.
Die parasitischen Viren breiten sich also gezielt in Krebsgewebe aus und zerstören es. So kamen die Forscher auf die zunächst seltsame Idee, diese merkwürdige Eigenschaft des Virus für einen neuen Zweck zu nutzen: Krebs zu bekämpfen. Daraus könnte aus eine neue, mächtige Waffe gegen Tumore entstehen, so die Hoffnung.