Tichys Einblick
Gegenseitig Kriegsverbrechen vorgeworfen

Cherson soll „maximal“ in Russland integriert werden

Die Verzögerungen bei der Evakuierung von Zivilisten aus der Gefahrenzone machen sich beide Seiten gegenseitig zum Vorwurf. Die Ukraine kritisiert die fortwährende Bombardierung des Stahwerks. Russland wirft den ukrainischen Soldaten hingegen vor, Zivilisten als Schutzschild zu missbrauchen.

Russische Soldaten in der Ukraine

IMAGO / SNA

Die Ukraine kann in Gegenoffensiven Boden gut machen, im Donbass kommt es zu schweren Gefechten. Präsident Selenskij ruft seine Landsleute zur Disziplin auf. Erstmals werden umfängliche Berichte zu echten und angeblichen Kriegsverbrechen von beiden Seiten vorgestellt.

Aktuelle Entwicklungen an der Front

In der Nacht gelang es den Ukrainern in einer Gegenoffensive im Nordosten des Landes, viele Siedlungen zurückzuerobern. Nordöstlich der Großstadt Charkiv habe man die Russen auf rund 40 Kilometern Front zurückgedrängt, meldet der ukrainische Generalstab. Der Gegenstoß setzt sich aktuell noch fort. Im Donbass kommt es derweil zu heftigen Gefechten: Rund um die Stadt Sievierodonetsk soll es Gestern zu „schweren Kämpfen“ gekommen sein. Circa 60 Kilometer südlich versuchen die Russen mit Panzern, Artillerie und Luftschlägen einen Keil in die ukrainischen Linien zu schlagen.

Auch die Kämpfe um den „Azovstal“-Komplex in Mariupol toben weiter. Am Freitag wurden nach Kiewer Angaben 50 Personen aus dem mit Bunkeranlagen ausgestatteten Stahlwerk evakuiert. Die Anstrengungen wurden jedoch immer wieder unterbrochen, auch durch russisches Feuer auf ein Evakuierungsfahrzeug, bei dem ein Soldat starb. Die Evakuierungen sollen heute fortgesetzt werden.

Kriegsverbrechen: Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig

Die Verzögerungen bei der Evakuierung von Zivilisten aus der Gefahrenzone machen sich beide Seiten gegenseitig zum Vorwurf. Die Ukraine kritisiert die fortwährende Bombardierung des Stahwerks. Russland wirft den ukrainischen Soldaten hingegen vor, Zivilisten als Schutzschild zu missbrauchen. Diese Vorwürfe sind Teil einer russischen Liste über angebliche ukrainische Kriegsverbrechen, die Moskaus UN-Diplomaten am Freitag in einer Sitzung des Sicherheitsrates präsentierten. Ukrainische Kräfte hätten insbesondere die Evakuierung der Zivilbevölkerung behindert, schreibt die russische Nachrichtenagentur TASS. Russlands UNO-Botschafter Nebenzya erklärte, dass die ukrainische Armee wiederholt schwere Waffen in Wohngebieten einsetzen und Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzen würde. “Es gibt viele Augenzeugenberichte darüber, wie die ukrainische Armee Zivilisten als Geiseln und menschliche Schutzschilde einsetzt“, sagte er. Auch internationale Journalisten sprachen auf Russlands Initiative vor dem Sicherheitsrat, um Moskaus Behauptungen mit ihren Berichten und Aussagen zu untermauern.

Währenddessen haben sowohl die Ukraine als auch die Vereinten Nationen Vorwürfe gegen Russland erhoben. Die Hohe UN-Kommissarin für Menschenrechte und ihr Team hätten „haufenweise“ Fälle dokumentiert, zitiert die „New York Times“. Unter anderem soll es zu illegalen Exekutionen und Deportationen gekommen sein. Russland habe außerdem viele Krankenhäuser bombardiert, beklagt man in Kiew. Präsident Wolodimir Selenskyj sprach von über 400 gesundheitlichen Einrichtungen, die zum Ziel russischer Angriffe geworden sein. Dazu kommen auch die viel beachteten, russischen Kriegsverbrechen wie die Morde in Butscha; die Liste russischer Verbrechen ist lang.

Auch die umstrittene Nichtregierungsorganisation „Amnesty International“ hat einen rund vierzigseitigen Bericht vorgelegt, der Moskau diverser Kriegsverbrechen beschuldigt. Er umfasst unter anderem mehr als 40 rechtswidrige Luftangriffe auf Borodjanka sowie Hinrichtungen in anderen Städten und Dörfern, darunter Butscha. „Wir wissen, dass die Verbrechen gegen in der Umgebung von Kiew lebende Menschen nicht nur anekdotisch, zufällig oder unbeabsichtigt sind“, erklärte Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard. Es seien vielmehr bewusste Entscheidungen gewesen.

Ukraine bereitet sich auf verstärkte russische Angriffe vor

Viele Beobachter befürchten eine Eskalation des Kriegs am 9. Mai, dem russischen Nationalfeiertag. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj rief seine Bürger zu besonderer Disziplin auf. Bereits jetzt fürchtet er die deutliche Zunahme von Luftangriffen. „Ich bitte alle unsere Bürger – und gerade in diesen Tagen –, den Luftalarm nicht zu ignorieren“, sagte der Staatschef am Freitag in seiner abendlichen Videoansprache. „Bitte, das ist Ihr Leben, das Leben Ihrer Kinder.“ Die Ukrainer sollten strikt den Anordnungen der Behörden folgen und sich an örtliche Ausgangssperren halten. Die Front im Osten ist stabil – Beobachter gehen von gefestigten und gestaffelten ukrainischen Verteidigungslinien aus, die es den Russen weiterhin schwer machen, nennenswerte Gebietsgewinne zu erzielen. Auch in der Hafenstadt Odessa bereitet man sich weiterhin auf Angriffe vor: Im gesamten Oblast gilt eine nächtliche Ausgangssperre, die Bewohner wurden gebeten, sich von den Stränden und Sicherheitszonen an der Küste fernzuhalten. Präventionsmaßnahmen gegen eine befürchtete Landungsoperationen werden verstärkt.

Chersons Abspaltung nimmt weiter Gestalt an

Russischen Medienberichten zufolge unternehmen die Besatzer im Südukrainischen Gebiet Cherson konkrete Anstrengungen zur Eingliederung in die russische Föderation. Russland bemüht sich bereits darum, den Rubel als Zahlungsmittel im besetzten Gebiet zu etablieren. Jetzt sollen die Einwohner von Cherson auch das Recht auf russische Pässe bekommen, zitierte die russische Nachrichtenagentur „Ria Nowosti“ einen moskautreuen Regionalpolitiker, den sie als Vertreter „der militärisch-zivilen Gebietsverwaltung“ bezeichnete. Die vorgegebene Marschrichtung ist klar: Cherson soll „Heim“ ins russische Reich. „Wir werden uns maximal in den Aufbau der Russischen Föderation integrieren“, kündigte er an. Berichten zufolge verhindern die Kollaborateure mit Gewalt, dass jemand aus dem Gebiet ausreist. In der ganzen Stadt Cherson sollen Checkpoints und Straßensperren stehen. Ein fragwürdiges Referendum, um den Anschluss an Russland oder zumindest die formelle Abspaltung von der Ukraine zu legitimieren, könnte noch im Mai stattfinden.

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