Hunderte tote Zivilisten, mutmaßlich exekutiert im Kiewer Vorort Butscha. Tote in Vorgärten, Tote in Kanalschächten, denen eine Granate hinterhergeworfen wurde, tote Fahrradfahrer, die am Straßenrand liegen. Manche der Leichen seien vermint. Die Ukraine macht russische Truppen für diese Taten verantwortlich. „Menschen, denen die Hände auf den Rücken gefesselt und enthauptet wurden […] Kinder, die getötet und gefoltert wurden“, habe man gefunden, so der ukrainische Präsident Selenskyj.
Russland weist die Vorwürfe weit von sich. So wirft Russland der Ukraine Manipulationen vor. Nun geht Moskau noch einen Schritt weiter: Der russische Chefermittler Alexander Bastrykin kündigt offizielle Ermittlungen zu den Vorgängen an, die er als „Provokation“ der Ukraine bezeichnet. Die Ermittlungen sollten auf der Grundlage eingeleitet werden, dass die Ukraine „absichtlich falsche Informationen“ über die russischen Streitkräfte in Butscha verbreitet habe. Doch bislang finden Russlands Erklärungen kaum Beachtung.
Bilder schaffen neue Realität
Die grauenhaften Bilder schaffen politische Realität. Weltweit wird das Vorgehen Russlands kritisiert, werden neue Sanktionen daraus abgeleitet sowie Forderungen insbesondere an Deutschland, die militärische Hilfe für die Ukraine massiv auszuweiten und auch schwere Waffen wie Schützenpanzer für die ukrainische Gegenoffensive zu liefern. Russlands Anhänger versuchen die Behauptungen zu entkräften – über den Massengräbern tobt ein Propagandakrieg. Außenministerin Annalena Baerbock wirft Russland „Kriegsverbrechen“ vor. 40 russische Diplomaten, die für die diversen Geheimdienste Russlands in Deutschland spionieren, müssen innerhalb von 5 Tagen Deutschland verlassen.
Polen fordert internationale Ermittlungen. „Wir schlagen eine internationale Kommission vor, um dieses Verbrechen des Völkermords zu untersuchen“, sagt Regierungschef Morawiecki in Warschau. „Diese blutigen Massaker, die von Russen, von russischen Soldaten begangen wurden, müssen beim Namen genannt werden. Es ist ein Völkermord und er muss geahndet werden.“ Auch Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez sagt mit Blick auf die Leichenfunde in Butscha, er sehe Anzeichen für einen möglichen „Völkermord“ in der Ukraine. „Wir werden alles tun, um sicherzustellen, dass diejenigen, die diese Kriegsverbrechen begangen haben, nicht ungestraft bleiben“, sagt er.
Großbritanniens Regierungschef Boris Johnson fordert Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im niederländischen Den Haag, der seit 2003 für die Verfolgung besonders schwerer Straftaten wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig ist.
Selenskyj macht Angela Merkel verantwortlich
Der Präsident der Ukraine, Selenskyj, findet überraschend deutliche Worte gegenüber Deutschlands ehemaliger Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er würde Altkanzlerin Merkel in Butscha gerne die Folgen ihrer Politik zeigen: „Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat. […] Sie werden die gefolterten Ukrainer und Ukrainerinnen mit eigenen Augen sehen“, sagte er in einer Videoansprache. Damit macht er Merkel direkt verantwortlich für den russischen Überfall und die Folgen.
Erstmals sieht sich Merkel dazu gezwungen, zum Ukraine-Krieg Stellung zu beziehen – und stellt sich vorsichtig auf die Seite der Ukraine: „Angesichts der in Butscha und anderen Orten der Ukraine sichtbar werdenden Gräueltaten finden alle Anstrengungen der Bundesregierung und der internationalen Staatengemeinschaft, der Ukraine zur Seite zu stehen und der Barbarei und dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Ende zu bereiten, die volle Unterstützung der Bundeskanzlerin a.D.“, lässt sie ihre Sprecherin erklären.