Seit Beginn der Bundesrepublik gehörte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wie übrigens auch der Bundespräsident zu den allgemein geachteten Institutionen, die über den Parteien und Ideologien standen und deshalb eine hohe Autorität besaßen. Es war nicht nötig, dass man mit jedem Gedanken des Bundespräsidenten und mit jedem Urteil des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmte, wichtig zu wissen war nur, dass Amtsführung und Urteilsfindung den Geist der Neutralität und Unabhängigkeit atmeten.
Der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier hat nie in das Amt des Bundespräsidenten hineingefunden. Er ist immer sozialdemokratischer Bürovorsteher und Parteipolitiker geblieben und hat damit das Amt beschädigt, das in den Krisen, in die wir gehen, eigentlich wichtiger denn je ist. Ob Steinmeier eine Rede hält, interessiert kaum noch jemanden, und wenn sie gehalten wird, wird sie bereits vergessen, während er noch spricht.
Mit Wehmut und Nostalgie kann man sich noch der Zeiten erinnern, als ein Roman Herzog Bundespräsident und Andreas Voßkuhle Präsident des Verfassungsgerichts war. Doch mit dem Merkelianer Stephan Harbarth mehren sich die Urteile, die juristisch fragwürdig, politisch jedoch allzu eindeutig sind.
So hat im Jahr 2021 das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit dem berüchtigten Urteil zum Klimaschutzgesetz der großen Transformation, also dem Umbau des Staates zur klimaneutralen Gesellschaft, zur Ersetzung der Sozialen Marktwirtschaft durch eine Kommandowirtschaft juristische Weihen erteilt. Das Bundesverfassungsgericht ging dabei von zwei Rechtsfiktionen aus, erstens von den Rechten künftiger Generationen und zweitens von Klimaprognosen, die zwar wissenschaftlich fragwürdig bis falsch sind, aber sich in der Glaskugel Karlsruher Richter zur Wahrheit aggregierten. Das Karlsruher Glaskugelurteil gab der Regierung Merkel die Möglichkeit, das Klimaschutzgesetz zu verschärfen, indem nun Deutschland verpflichtet wird, Klimaneutralität statt 2050 bereits 2045 zu erreichen.
Ohnehin stellt sich die Frage was „Klimaneutralität“ sein soll. Eine Welt ohne Klima oder unser Abschied von der Welt? In welchem Kontext das steht, hat Angela Merkel ja bereits in Davos 2020 verkündet: „Aber, meine Damen und Herren, das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen …“
Noch fragwürdiger ist das Gesetz zu den öffentlich-rechtlichen Sendern, das letztlich aus den öffentlich-rechtlichen Sendern einen Staatsfunk und aus den Gebühren eine Zwangspropagandafinanzierungssteuer macht. Das Bundesverfassungsgericht hat die von Sachsen-Anhalt ausgesetzte Erhöhung des Rundfunkbeitrags in Kraft gesetzt. Harbarths Richter meinten, dass die im Grundgesetz gesicherte Rundfunkfreiheit von Sachsen-Anhalt verletzt würde, weil Sachsen-Anhalt der Novellierung des Staatsvertrags nicht zugestimmt hat. Sachsen-Anhalts Entscheidung war demokratisch legitimiert, was in Karlsruhe nicht zu interessieren scheint; dort hält man es eher mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Doch das Karlsruher Urteil in der Causa Merkel zeigt, wie hoch oder tief das Ansehen der Demokratie in Karlsruhe steht. Als im Februar 2020 der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen der CDU, der FDP und der AfD zum Ministerpräsidenten Thüringens in freier und demokratischer Wahl gewählt worden war, diktierte Merkel während ihres Aufenthalts in Südafrika via Pressekonferenz: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat für die CDU und auch für mich, nämlich dass keine Mehrheiten mithilfe der AfD gewonnen werden sollen“, sagte sie in Pretoria. „Da dies absehbar war in der Konstellation, wie im dritten Wahlgang gewählt wurde, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss.“
Spornstreichs fuhr die Ikone deutscher Liberalität, Christian Lindner, der die FDP inzwischen zum 17. Landesverband der Grünen gemacht hat, nach Erfurt, um seinem Parteifreund Kemmerich zum Rücktritt zu drängen, damit der Linke Bodo Ramelow, der Mann, der zu einer Partei gehört, die zwar Linke heißt, aber die SED ist, wieder ins Amt zurückkehren kann. Und damit man in Deutschland weiß, was man von den Versprechungen von Politikern zu halten hat, wurde natürlich die feierliche Erklärung, dass im Herbst Neuwahlen stattfinden sollen, nicht eingehalten. Ramelow ist zum Schaden von Thüringen und zum Schaden der Demokratie immer noch im Amt.
Wie hoch in der Politik das Ansehen der Demokratie steht, kann man in den Vorgängen um die Berlin-Wahl besichtigen. Viel weniger, als neugewählt werden muss, soll auch neugewählt werden, und das auch nicht morgen oder übermorgen, sondern am Sankt Nimmerleinstag, nämlich kurz vor der nächsten regulären Wahl. Stärker kann man die Demokratie nicht verspotten und den Bürgern erklären, was sie in den Augen der Politik sind: das noch notwendige Übel. Das Ende der Demokratie beginnt dann, wenn die Demokraten die Demokratie nicht ernst nehmen.
Zwar stellten die Richter des Verfassungsgerichtes fest, dass Merkel mit ihrem Kommentar im Februar 2020 gegen die Verfassung verstoßen habe – aber eben erst im Juni 2022. Da war Merkel nicht mehr im Amt. Nun hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine Konsequenzen mehr und Merkel reagierte nur schulterzuckend. Ihre Sprecherin sagte kühl, dass Merkel selbstverständlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts respektiere. Mehr Verhöhnung der Demokratie geht nicht. Gut in Erinnerung ist noch, dass Merkel mit Ministern die Richter des 1. und 2. Senats im Juni 2021 zum Abendessen ins Kanzleramt eingeladen hatte. Hatte man an dem Abend auf die Aufweichung der Gewaltenteilung angestoßen? Ist das Bundesverfassungsgericht unter Merkels Parteifreund Harbarth zum Tricksen übergegangen? Ist Recht nur noch eine Funktion des für die große Transformation Notwendigen?
Inzwischen stellt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, das gerade herauskam, die Neutralität des Bundesverfassungsgerichts in Frage. Von einem privaten Verein wurde eine Juristenpressekonferenz organisiert, über deren Mitgliedschaft entscheidet allein der Verein. Von den 38 Mitgliedern des Vereins arbeiten 15 Journalisten für die öffentlich-rechtlichen Medien. Vorsitzende des Vereins sind Journalisten von ARD und Süddeutsche Zeitung. Diese „Juristenpressekonferenz“ bekommt Pressemitteilungen zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schon am Vorabend der Verkündigung. Im Gutachten heißt es:
„In diesem Zusammenhang erscheint jedenfalls die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Pressemitteilungen nur einem exklusiven Kreis an Journalisten zur Verfügung zu stellen, für die benachteiligten Journalisten besonders schwerwiegend, zumal das Bundesverfassungsgericht bei der beabsichtigten Gewährleistung der Professionalität auf die Einschätzung eines privaten Vereins vertraut. Im Zusammenhang mit exklusiven Pressemitteilungen für die Landespressekonferenz hat das VG Stuttgart insoweit entschieden, dass einer Landespressekonferenz rechtlich kein besonderer Status und insbesondere kein Monopol der Erlangung von presseerheblichen Informationen zukomme, sodass die Mitgliedschaft in der Landespressekonferenz keinen sachlichen Grund zur Ungleichbehandlung darstelle.“
Erwartet Harbarths Verfassungsgericht ein Entgegenkommen der so bevorteilten Journalisten? Ist kompetent, wen Harbarth als kompetent erachtet? Steckt die Absicht dahinter, eine gewisse Hoheit über die Kommentierung der Karlsruher Urteile abzusichern?
Da die Urteile augenscheinlich immer stärker den Gesetzgeber im Sinne politischer Ziele verpflichten, sie juristisch immer anfechtbarer werden und an der Neutralität immer stärkere Zweifel entstehen, kann es als sinnvoll erscheinen, vor allem diejenigen zu bevorteilen, die im Sinne des aktivistischen Journalismus mit der Pflicht zur Objektivität gebrochen haben, wie man es in Statements von Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nachlesen kann.
Wie sagte Merkel, der Harbarth letztlich das Amt verdankt: „Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen.“ Wer sich der großen Transformation verpflichtet fühlt, dem scheint Neutralität und Objektivität im Sinne Merkels nur noch eine schlechte Angewohnheit zu sein, der wir uns zu entledigen haben.
Die Folgen für die Demokratie sind immens, wenn die Gewaltenteilung und die Neutralität der Staatsorgane nicht mehr gewahrt sind, wenn die Staatsorgane und letztlich der Staat sich selbst delegitimiert, weil er sich an seine Gesetze und Spielregeln nicht mehr hält, wenn Regelbrüche nicht Ausnahme sind, sondern zur neuen Spielregeln wird, die lautet: Legitim ist, was nutzt.
Sic transit gloria mundi.