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Entscheidung war vorab im Internet abrufbar

Bundesverfassungsgericht annulliert Wahlrechtsreform in entscheidendem Punkt

Erneute Klatsche für die Ampel aus Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht erklärt die Wahlrechtsreform in seiner heutigen Urteilsverkündung in einem entscheidenden Punkt für verfassungswidrig. Die Streichung der Grundmandatsklausel ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Es mag Versehen oder Absicht gewesen sein: Am Dienstag, 30. Juli, wollte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein Urteil zum neuen Wahlrecht im Bund verkünden. 12 Stunden vorher, am Abend des 29. Juli, war das Urteil bereits für kurze Zeit auf der Website des Gerichts abrufbar. So funktioniert Deutschland! Aber das nur am Rande!

Aktuelle Klatsche: Das Bundesverfassungsgericht hat die von der „Ampel“-Mehrheit am 17. März 2023 vom Bundestag beschlossene Wahlrechtsreform (399 pro, 261 contra, 23 Enthaltungen) in einem ganz entscheidenden Punkt für verfassungswidrig erklärt: Die von der „Ampel“ vorgesehene Streichung der Grundmandatsklausel wurde für verfassungswidrig erklärt. Vor allem die CSU kann aufatmen. Der „Links“-Partei wird das Urteil wenig helfen, nachdem sie einen erheblichen Teil ihrer Wählerschaft an das BSW, das aus der „Links“-Partei hervorgegangen ist, verloren hat und weiter verlieren wird.

Das heißt: „Karlsruhe“ hat der „Ampel“ binnen acht Monaten erneut eine riesige Klatsche erteilt. Im November 2023 war der Nachtragshaushalt der „Ampel“ für 2021 als verfassungswidrig aufgehoben worden. Die „Ampel“ hatte 60 „Corona“-Milliarden für den Klima- und Transformationsfonds (KTF) nutzen und damit ein Haushaltsloch stopfen wollen.

Vorgeschichte

Mit der Neuregelung des Wahlrechts wollte die „Ampel“-Mehrheit die Zahl der Bundestagsmandate künftig auf 630 begrenzen. Überhang- und Ausgleichsmandate sollten wegfallen. Folge: Künftig würden nicht alle Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten, in das Parlament einziehen. Dem neuen Wahlrecht zufolge sollte es wie bisher 299 Wahlkreise und zwei Stimmen (Erst- und Zweitstimme) geben. Dies wurde von „Karlsruhe“ bestätigt.

Die weitestreichend von der „Ampel“ vorgesehene Änderung betraf die sogenannte Grundmandatsklausel. Mit ihr war eine Partei bislang auch dann entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis im Bundestag vertreten, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen errungen hat, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen konnte. Zuletzt hatte davon die „Links“-Partei profitiert, die bei der Bundestagswahl 2021 auf einen Zweitstimmenanteil von 4,9 Prozent kam, aber mit drei Direktmandaten (Berlin Treptow-Köpenick, Berlin Lichtenberg, Leipzig Süd) in Fraktionsstärke in das Parlament einziehen konnte.

Diese Grundmandatsklausel sollte nach dem neuen „Ampel“-Wahlrecht wegfallen. Bei einem Wahlergebnis (fiktiv wie 2021) wäre die „Links“-Partei damit im Bundestag nicht mehr vertreten. Sorgen musste sich auch die (Söder-)CSU machen, die bei der Bundestagswahl 2021 im Freistaat zwar (für die CSU magere) 31,7 Prozent erreichte, diese 31,7 Prozent aber auf Bundesebene mit einem Anteil von 5,2 Prozent nur knapp über der 5-Prozent-Hürde lagen. Mit anderen Worten: Selbst wenn die CSU 2021 qua Erststimme 45 MdBs stellte, wären diese im Bundestag zukünftig nicht mehr vertreten, wenn die CSU bundesweit auf 4,99 Prozent, in Bayern also auf weniger als etwa 30,4 Prozent fiele. Bis zur Wahl 2017 war das für die CSU kein Thema: 2017 hatte sie auf Bundesebene 6,2 Prozent (in Bayern 38,8), 2013 im Bund 7,5 Prozent (in Bayern 49,3) gestellt.

Schließlich gab es zwei Normenkontrollverfahren der Bayerischen Staatsregierung und von 195 Mitgliedern des Deutschen Bundestages aus der CDU/CSU-Fraktion, drei Organstreitverfahren der Parteien CSU und DIE LINKE. Zudem Verfassungsbeschwerdeverfahren von mehr als 4.000 Privatpersonen und von Bundestagsabgeordneten der „Links“-Partei.

Die Antragsteller beanstandeten teilweise bereits den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, der ihr Recht auf Beratung aus Art. 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) verletze. Vor allem wandten sich Antragsteller und Beschwerdeführer gegen die Abschaffung der Grundmandatsklausel, wonach eine Partei bislang unabhängig vom Erreichen der 5-Prozent-Klausel in den Bundestag einzog, wenn mindestens drei ihrer Wahlkreiskandidaten ein Direktmandat errungen haben. Die Antragsteller und Beschwerdeführer machten insbesondere Verletzungen der Wahlrechtsgleichheit aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 GG und des Rechts auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG geltend. Am 23. und 24. April 2024 hatte es dazu vor dem Zweiten Senat des BVerfG eine Verhandlung gegeben.

Nun also das Urteil

Teile der Reform werden vom BVerG nicht moniert: Nach wie vor wählen die Bürger mit der Erststimme einen Bewerber in ihrem Wahlkreis. Die Bewerber mit den meisten Stimmen kommen aber nicht mehr automatisch in den Bundestag. Denn das führte in der Vergangenheit dazu, dass manche Parteien mehr Sitze im Bundestag hatten, als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese sogenannten Überhangmandate führten wiederum zu Ausgleichsmandaten. So wurde der Bundestag immer größer.

Nach der Reform kommen nur noch so viele Direktkandidaten in den Bundestag, wie es der Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zusteht. Manche Direktkandidaten bekommen also nach dem sogenannten Zweitstimmen-Deckungsverfahren keinen Sitz, auch wenn sie in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten. Darin sieht das BVerfG keinen Verstoß gegen die Verfassung.

Vielmehr sei es vom Spielraum des Gesetzgebers gedeckt, dies so zu entscheiden. Wahlkreisabgeordnete seien auch nicht „Delegierte ihres Wahlkreises“, sondern Vertreter des ganzen Volkes. Das neue „Zweitstimmen-Deckungsverfahren“ führe zu einer Verteilung der Sitze im Bundestag nach dem Wahlergebnis für die Partei. Dies sei bei dem Modell der Ausgleichsmandate im Ergebnis nicht anders gewesen.

Das BVerfG hebt indes die Streichung der sogenannten Grundmandatsklausel als unvereinbar mit dem Grundgesetz auf. Bis zu einer Neuregelung solle die Grundmandatsklausel weiterhin gelten. Sie soll den Bundestag von derzeit 733 auf 630 Abgeordnete verkleinern. Was ja sehr wohl sinnvoll ist.

Zur Erinnerung: Der Bundestag war 1949 mit 402 Abgeordneten gestartet. In den Jahren von 1953 bis 1990 gab es zwischen 509 und 521 Abgeordnete. Mit der Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 vergrößerte sich der Bundestag auf 662 Sitze, die dann 2002 auf 603 abschmolzen. Mit der Wahl 2017 schnellte die Zahl auf 709 Abgeordnete hoch, derzeit sind es 733. Der Bundestag hat unter allen „demokratischen“ Staaten damit das größte Parlament. Zum Vergleich: Großbritannien 650, Italien 630, Frankreich 577, USA 435.

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