702 Abgeordnete haben zum Infektionsschutzgesetz namentlich abgestimmt. Das ist selbst für den aufgeblähten Bundestag eine hohe Zahl. 386 Abgeordneten haben für die Maßnahmen in diesem Herbst abgestimmt, 313 dagegen – drei Abgeordnete haben sich enthalten. Das Ergebnis zeigt: Der weitgehende Konsens, den es noch unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegeben hat, ist aufgekündigt. Die Pandemie-Politik ist zum Politikum geworden.
Die Ampel folge der Wissenschaft, die Union habe diesen Weg der Wissenschaft verlassen.
Janosch Dahmen zeigt die für Grünen typische, gefühlte Unfehlbarkeit. Dann meldet sich Emmi Zeulner (CSU) mit einer Zwischenfrage an den gesundheitspolitischen Sprecher der Grünen: Wie es sich denn wissenschaftlich erklären lasse, dass die Maskenpflicht in Flugzeugen künftig nicht mehr gelte, in Fernzügen aber schon? Treffer. Versenkt. Schlimmer kann es für Dahmen nicht kommen. Es sei denn, er antwortet. Das tut er: Die Ampelkoaltion habe die „Regeln anpassen (wollen), an das was im übrigen Europa als überwiegender Standard gilt“.
In dieser Antwort steckt viel drin. Auch über Dahmen, aber das ist egal, dafür ist er zu unwichtig. Vielmehr muss es um die Corona-Politik gehen, die nun von der Ampel zementiert wurde: Zum einen ist sie nicht so wissenschaftlich, wie das ihre Vertreter so gerne vorgeben. Die Corona-Politik ist von Kompromissen geprägt, die immer mehr dafür sorgen, dass nicht mehr die Gesundheitsvorsorge im Mittelpunkt steht – sondern politische Interessen. Zum anderen bedeutet die deutsche Corona-Politik in Europa einen Alleingang. Das Land ist nicht mehr kompatibel zu seinen Nachbarn. Das sagen nicht die politischen Gegner der Maßnahmen. Das gibt Janosch Dahmen unter Druck zu. Er ist vielleicht nicht so charismatisch wie Karl Lauterbach (SPD), steht ihm aber als Hardliner in nichts nach.
Der Gesundheitsminister bringt das Gesetz ein. Er setzt – noch vor Dahmen – die Sprachregelung von der Wissenschaft, der die deutsche Corona-Politik folge. Er sagt, täglich würden 100 Menschen an Corona sterben. An oder mit Corona? Da differenziert Lauterbach nicht. Das kann der Minister auch gar nicht. Das Land, das in seiner Corona-Politik der Wissenschaft folgt, kennt die Zahlen nicht – unterscheidet nicht zwischen „an oder mit Corona“ gestorben. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie.
Doch im Vergleich zu 2021 hat sich etwas in der Corona-Politik geändert. Es gibt nun eine Opposition außerhalb der AfD. Von „Chaos am Verhandlungstisch“ spricht der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Tino Sorge. Er meint damit 80 Seiten Änderungsanträge. Die haben die Ampelfraktionen erst kurzfristig eingebracht. Obwohl sie die Entwürfe bereits an dem Tag vom Gesundheitsministerium bekommen haben, an dem Lauterbach zusammen mit Justizminister Marco Buschmann (FDP) den Entwurf vorgestellt hat. Sorge meint aber auch inhaltliche Widersprüche, etwa die unterschiedlichen Regelungen für Züge und Flugzeuge, spricht von „halbgaren Kompromissen“. Oder dass die Grundvoraussetzungen nicht definiert seien, ab wann die Länder welche Maßnahme anwenden sollen.
Auch die Linke schließt sich der Opposition an. Ihre Rednerin Kathrin Vogler konzentriert sich auf die Widersprüchlichkeit der Maskenregelung. In den Flugzeugen habe Lauterbach der Luftfahrt-Lobby nachgegeben. Das Ergebnis davon „klingt nicht nur inplausibel – es ist inplausibel“.
Die Opposition einheitlich gegen das Infektionsschutzgesetz – somit kam es auf die FDP an, damit die Ampel eine Mehrheit erhält. Ihr lautester Kritiker an dem Gesetz leitet die Debatte als Vizepräsident: nämlich Wolfgang Kubicki. Damit ist er in der Diskussion zwar präsent, darf aber selbst nicht reden. Oder muss er nicht reden? Jedenfalls ist er in seiner Funktion als Vizepräsident aus der eigentlichen Debatte raus.
Union und Linke haben sich in Sachen Corona-Politik der Opposition angeschlossen. Die Führungsrolle in der Opposition will sich die AfD nicht nehmen lassen. So fordert sie außerhalb des Plenums einen Untersuchungsausschuss. Darin solle der Bundestag das Handeln sowie das Unterlassen der Bundesregierung in der Pandemie untersuchen. Aus den Ergebnissen solle das Handeln für künftige Pandemien abgeleitet werden. Im Bundestag wählten die Abgeordneten einen besonderen Weg, um auf den Entwurf Lauterbachs zu reagieren. Statt politisch zu argumentieren, tragen sie Berichte von Betroffenen vor. Von Menschen, die ihre Angehörigen vor deren Tod nicht mehr sehen durften, oder von Offizieren, die beruflich ruiniert sind, weil sie sich nicht impfen lassen wollten. Diese Zitate schlossen sie jeweils mit der Forderung: „Geben Sie den Menschen ihre Freiheit und Eigenverantwortung zurück!“