Tichys Einblick
Verfahrensfragen

Bundeskanzler: Wahl und Rolle von Bundespräsident und Bundestag

Nach unerwarteten Wahlergebnissen kann es lange dauern, bis es zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers oder auch zu Neuwahlen kommt.

Der neu gewählte Bundestag muss spätestens 30 Tage nach der Bundestagswahl zusammentreten. Damit endet das Amt des Bundeskanzlers (Artikel 69 Absatz 2 Grundgesetz). Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterzuführen (Artikel 69 Absatz 3). Finden Koalitionsverhandlungen bis zur konstituierenden Sitzung des Bundestags keinen Abschluss oder formiert sich keine Koalition, bliebe Angela Merkel bis zur Kanzlerwahl „geschäftsführende Bundeskanzlerin“.

Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt (Artikel 63 Absatz 1 Grundgesetz). Die Initiative liegt beim Bundespräsidenten. Er wird wohl warten, bis sich eine parlamentarische Mehrheit in Koalitionsverhandlungen auf einen Kandidaten einigt.

Nach der Wahl ist vor dem Sturz
Kleine Vorschau auf Merkels vermutlich letzte Amtszeit
Eine bestimmte Frist für den Vorschlag des Bundespräsidenten enthält das Grundgesetz nicht. Allzu lange warten wird er nicht dürfen. Sobald Koalitionsverhandlungen eindeutig scheitern oder keine zustande kommen, muss der Bundespräsident einen Vorschlag für die Kanzlerwahl machen. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erreicht (Kanzlermehrheit). Kommt die Kanzlermehrheit nicht zustande, hat der Bundestag 14 Tage lang die Möglichkeit, selbst einen Bundeskanzler vorzuschlagen und zu wählen. Gelingt das binnen 14 Tagen nicht, muss ein neuer Wahlgang stattfinden, in dem es nicht mehr die absolute Kanzlermehrheit braucht, sondern die relative Mehrheit genügt.
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Den mit relativer Mehrheit Gewählten kann der Bundespräsident ernennen. Erreicht der Kandidat in der Abstimmung, in der nur noch die relative Mehrheit nötig ist, die – absolute – Kanzlermehrheit, muss der Bundespräsident ihn zum Bundeskanzler ernennen.

Erhält der Kandidat nur die relative Mehrheit, muss der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder den Gewählten zum Bundeskanzler ernennen oder den Bundestag auflösen und damit Neuwahlen herbeiführen.

Vor der Wahl
Deutschland nach der Wahl – quo vadis?
Die Ernennung bei relativer Mehrheit bedeutet eine Minderheitsregierung, bei der der Bundeskanzler für jedes Gesetzesvorhaben eine Mehrheit im Bundestag besorgen muss. Ansonsten hat er dieselben Rechte wie ein mit absoluter Mehrheit gewählter Kanzler und kann nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden: Abwahl durch Wahl eines neuen Kanzlers mit absoluter Mehrheit.

Ein Recht des Bundestags, sich selbst aufzulösen und so Neuwahlen zu bewirken, kennt das Grundgesetz nicht, deshalb wählten Kohl 1982 und Schröder 2005 den Umweg über die Vertrauensfrage nach Art 68 GG. Der Bundestag sprach ihnen wunschgemäß das Misstrauen aus, obwohl sie eigentlich das Vertrauen nicht verloren hatten. Deshalb war das Verfahren verfassungsrechtlich umstritten, aber das BVerfG hat es abgesegnet.


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