Tichys Einblick
Eine Klassenfrage

Wie die Einführung des Bürgergelds mit der Vertreibung des Bargelds zusammenhängt

Über der regulären Steuer- und Abgabenzahlerklasse steht eine Schicht, die keinen gesteigerten Wert auf Bargeld legt, weil das, was sie beansprucht und erhält, als Überweisung auf ihre Konten fließt, ob als Gehalt im Staatsdienst, Transfer im Rahmen des Programms „Demokratie leben“ oder gleich im Demokratieabgabensektor.

Agentur für Arbeit in Hamburg, 10.11.2022

IMAGO / Nikito

Niemand hat die Absicht, das Bargeld abzuschaffen. Das erklären Politiker bei jedem Schritt, den sie unternehmen, um den Raum für das Bare, also aus Bürgersicht echte Geld, ein bisschen enger zu machen. Beispielsweise, indem Bundesinnenministerin Nancy Faeser eine allgemeine Bargeldobergrenze von 10 000 Euro in Aussicht stellte. Die gleiche politische Versicherung – also die, es bestünde keine Absicht – gab es auch schon, als der Druck von 500-Euro-Scheinen eingestellt und die Debatte angestoßen wurde, wie lange die anderen großen Stückelungen noch geduldet werden sollten.

Es gab sie wieder, als die Regierung den Goldkauf mit Bargeld einschränkte. Und noch einmal, als Finanzminister Christian Lindner die Einführung des von ihm so genannten digitalen Bargelds ankündigte. Wer einwendet, dass digitales Bargeld so ähnlich klingt wie vegane Weißwurst, liegt ganz richtig. Bei dem Digitaleuro – so lautet seine korrekte Bezeichnung – handelt es sich um eine Schöpfung der Europäischen Zentralbank, die der Bank zufolge nicht zur Wertaufbewahrung dient, sondern als Mittel im Zahlungsverkehr, vorerst neben dem physischen Geld.

Die Einführung der Bargeldobergrenze begründet die Innenministerin mit Korruptions- und Kriminalitätsbekämpfung, für den digitalen Euro führen die EZB und Finanzministerium an, er sollte das Bezahlen leichter machen, außerdem entspreche seine Einführung den Wünschen der Bürger. Wenn Bürger diesen Wunsch tatsächlich geäußert haben sollten, dann nur sehr verhalten. Denn die allermeisten wissen noch nicht einmal, wie der elektronische Euro in der Praxis funktionieren soll. Genaugenommen weiß es sogar die EZB noch nicht im Detail. Sie will den E-Euro noch bis Oktober 2023 zusammen mit einigen ausgewählten Kreditinstituten testen.

Die Begründung, eine Bargeldobergrenze müsste zur Korruptions- und Kriminalitätsbekämpfung unbedingt gezogen werden, leuchtet auch nicht jedem ein. Nach einer Online-Umfrage des Instituts Civey vom 16. bis 18. November halten 48 Prozent der befragten die Obergrenze von 10 000 Euro für sehr gut oder gut, 40,2 Prozent aber für sehr schlecht beziehungsweise schlecht, 11,8 Prozent äußerten dazu keine Meinung. Für ein Land, in dem sonst schnell Mehrheiten für alle möglichen restriktiven Maßnahmen zusammenkommen, vor allem dann, wenn auch viele Medien dafür werben, und in dem die wenigsten schon einmal 10 000 Euro in bar auf einen Schlag ausgegeben haben dürften, fällt die Zahl der Bargeldbefürworter immer noch erstaunlich groß aus, und die der Begrenzer eher bescheiden.

Vermutlich wissen oder ahnen viele, dass sich die Kriminalität jenseits des Amateurbereichs mit Bargeldentzug nicht ganz so einfach bekämpfen lässt. Diejenigen, die in der illegalen Branche tätig sind, beherrschen das Geschäft der Geldwäsche ganz gut. Möglicherweise zweifeln auch viele daran, ob Kriminalitätsbekämpfung für führende Politiker auf der Agenda tatsächlich so weit oben steht. Sie erinnern sich möglicherweise an die Corona-Testcenter, von denen es in manchen Berliner Straßen zwei bis drei in Sichtweite zueinander gab, oft von geschäftstüchtigen Familien betrieben, die in kurzer Zeit erstaunliche Umsätze verbuchten.

Alexander Wendt

Auch die Frage, wie weit Bargeld tatsächlich zu Korruptionszwecken dient, beantworten sehr viele Realisten unter den Bürger vermutlich nüchterner als Politiker, die das physische Bezahlungsmittel zum Problem erklären. Köfferchen und Briefumschläge voller Scheinen kommen im Bestechungswesen eher selten vor. Jedenfalls wurde Gerhard Schröder nach seiner Kanzlerschaft von Gazprom ganz regulär per Überweisung bezahlt, genauso wie Peer Steinbrück nach seiner Zeit als Bundesfinanzminister als Lobbyist der Großbank ING.

Die Großspende eines Finanzmanagers mit langjähriger Berufserfahrung in Moskau an die Grünen, der sich unter anderem auch an dem Green-Gateway-Fonds beteiligt, floss ebenfalls konventionell von Konto zu Konto. Und falls es einen finanziellen Stimulus dafür gegeben haben sollte, dass die gut mit der NRW-CDU vernetzte Speditionsfirma Fiege aus dem Sauerland vom Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn bei der Maskenbeschaffung einen Sondervertrag mit erstaunlichen Vorzugskonditionen bekam, dürften beide Seiten wahrscheinlich einen eleganteren Weg gefunden haben als ein kleines Päckchen Bares.

Für die Praxis, das Bargeld in kleinen Schritten nach und nach zurückzudrängen, gibt es naheliegendere Gründe. Der mit Abstand wichtigste Grund heißt Bürgergeld. Das (noch nicht beschlossene) Gesetz sieht bekanntlich vor, die bisherigen Hartz-IV-Leistungen durch einen anderen Zahlungsmodus zu ersetzen. Die Veränderung betrifft nicht so sehr die Höhe der Regelsätze – die steigen nur mäßig von 449 auf 502 Euro – sondern vor allem die Bedingungen. Nach dem vorliegenden Entwurf würde der Staat zwei Jahre lang die tatsächlichen Mietkosten ohne Obergrenze übernehmen, der Bürgergeldbezieher müsste sich also weder gegebenenfalls eine billigere Wohnung suchen noch einen Teil der Miete selbst übernehmen. Er müsste auch anders als bisher nicht erst sein eigenes Vermögen angreifen, bevor er steuergeldfinanzierte Hilfe in Anspruch nimmt. Für ebenfalls zwei Jahre dürfte er 60 000 Euro für sich selbst und 30 000 Euro für jede weitere Person der Bedarfsgemeinschaft behalten. Welche Praxis nach den zwei Jahren gelten soll, bleibt in dem Entwurf unklar. Im ersten halben Jahr des Bezugs dürften außerdem keine Sanktionen verhängt werden, auch dann nicht, wenn der Betreffende, wie es heißt, nicht kooperiert, also eine angebotene Arbeit nicht annimmt.

Zurzeit beziehen etwa 5,4 Millionen Menschen in Deutschland Hartz-IV-Leistungen, davon drei Millionen Deutsche und 2,4 Millionen Nichtdeutsche (2015: 4,6 Millionen Deutsche, 1,3 Millionen Nichtdeutsche). Seit die Union dem Bürgergeld im Bundesrat die Zustimmung verweigert, werfen SPD, Grüne und Sozialverbände ihr vor, mit falschen Zahlen zu operieren, und werben mit Rechenbeispielen für das Bürgergeld, die zeigen sollen, dass bei Erwerbsarbeit grundsätzlich mehr verfügbares Einkommen übrig bleiben würde als bei der staatlichen Alimentation, beispielsweise hier:

Screenshot via Twitter / ReinhBispinck

Merkwürdigerweise fehlen die Wohnkosten bei den Arbeitnehmern, die in Großstädten bis zu 40 Prozent des Nettoverdienstes ausmachen können. Aber ganz abgesehen davon müssten die 478 bis 821 Euro, die je nach Familienstand und Kinderzahl im Vergleich zum Bürgergeld mehr bleiben, für eine realistische Rechnung durch die 200 Stunden geteilt werden, die ein Vollzeitbeschäftigter inklusive Arbeitsweg und gelegentlichen Überstunden monatlich für sein Einkommen aufwendet. Danach ergibt sich bei Erwerbsarbeit ein Vorteil von 2,35 bis 4,10 Euro je Arbeitsstunde gegenüber dem Bürgergeld, unter Nichtberücksichtigung der Fahrkosten, die zwar später abgesetzt werden können, aber erst einmal aufgebracht werden müssen. Durch die Übernahme der Mietkosten dürfte sich in Großstädten wie München und Hamburg der leichte durchschnittliche Vorsprung von Beschäftigen noch weiter Richtung Null verringern.

Umgekehrt zeigt die Rechnung, dass bei Bürgergeldbezug schon eine Woche Schwarzarbeit pro Monat genügt, um in der Summe mindestens den gleichen Betrag zu erhalten wie durch eine Vollzeittätigkeit. Wer beides kombiniert, kommt der 25-Stunden-Woche bei vollem Lohngleich schon sehr nah, die SPD-Linke gerade vorschlagen.

Absichtliche Wechsel von regulärer Tätigkeit zu Hartz IV gab es bisher deshalb eher selten, weil sie den Betreffenden gezwungen hätte, seine Ersparnisse aufzulösen, in vielen Fällen also die Lebensversicherung. Wenn eine vierköpfige Bedarfsgemeinschaft erst einmal 150 000 Euro behalten kann, sieht die Rechnung schon anders aus.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert warf den politischen Gegnern, die das Bürgergeld ablehnen, in einer Talkshow ein schlimmes Menschenbild vor. Er kann und will es sich nicht vorstellen, dass Beschäftigte die staatliche Alimentierung vorziehen, weil sie unter dem Strich ein günstigeres Leben verspricht. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um ein realistisches Menschenbild, das sich sogar bei dem einen oder anderen Politiker beobachten lässt, wenn auch nicht auf Bürgergeldniveau, sondern eher beim Sprung vom Callcenter-Mitarbeiter zum Bundestagsabgeordneten und Parteifunktionär.

Jedenfalls macht der Autor keinem einen Vorwurf, der Lebenszeit und -energie auf der einen und Nettoertrag auf der anderen vergleicht, und zu dem Schluss kommt, dass er besser von der Zahler- auf die Nehmerseite wechselt.

Der Vorschlag des Bürgergelds kommt zu einer Zeit, in der gerade im Bereich der unteren Lohngruppen, also dort, wo schon Hartz IV und Erwerbsnetto eng beieinander liegen, der Arbeitskräftemangel ganze Branchen austrocknet. Viele Gaststätten reduzieren ihre Öffnungszeiten. Manche legen einen zusätzlichen Ruhetag ein, weil es an Personal fehlt.

Screenshot via Twitter / MDR Aktuell

Die Münchner Verkehrsbetriebe drucken den Grund auf ihre Fahrpläne, warum auch tagsüber manche Buslinien nur noch im 20-Minuten-Takt verkehren.

In Berlin fahnden Inhaber von Friseurgeschäften per Plakat nach Personal.

Alexander Wendt

So stellt sich die Lage, wie gesagt, kurz vor der Bürgergeldeinführung dar.
Zu dieser Lage gehört auch die Ausweichbewegung. Wenn die Gastronomie in Deutschland im Großen und Ganzen trotz 100 000 unbesetzter Stellen noch halbwegs funktioniert, dann nur durch Schwarzarbeit. In vielen kleinen Betrieben gilt die Regel: Keine Kartenzahlung, nur bar. Niemand muss lange nach Angeboten der Schattenökonomie suchen. Es gibt Schwarzmärkte für die Telefonnummern von Reinigungskräften. In einer Weltstadt mit Herz – keine Details, um niemanden in Schwierigkeiten zu bringen – gibt es beispielsweise einen familiär betriebenen Gemüsehandel mit regulärem Kassen- und Hinterhofbetrieb, wo Obst und Grünzeug nur stiegenweise und für Bares an vertrauenswürdige Kunden geht.

In kaum einem anderen Industrieland bleibt einem Arbeitnehmer so wenig von den Gesamtaufwendungen für seine Beschäftigung wie in Deutschland. Eine reguläre Tätigkeit ist für den Arbeitgeber wie für den Arbeitnehmer gleichermaßen unattraktiv.

Also weichen beide Seiten immer häufiger in die graue Zone aus, nicht vorrangig aus krimineller Energie, sondern ähnlich wie der eine oder andere Transferleistungsempfänger aus rationalem Kalkül. Sollte das Bürgergeld so kommen wie geplant, möglicherweise mit kleinen Korrekturen, aber ansonsten nach vorgesehenem Muster, dann verabschieden sich zwangsläufig noch sehr viel mehr Beschäftigte aus dem Dienstleistungsbereich, aber auch aus anderen Tätigkeiten mit Vergütungen unterhalb des Einkommensdurchschnitts vom besteuerten Arbeitsmarkt. Dem klugen Rat von Mandatsträgern mit 10 000 Euro gemeinschaftsfinanziertem Einkommen pro Monat, einfach die Gehälter zu erhöhen, können die meisten Klein- und Mittelbetriebe nämlich nicht entsprechen.

Wenn Politiker die Räume für das Bargeld enger machen, dann wissen sie schon, warum. Sie sehen die Absetzbewegung aus der fiskalischen Zone, also wollen sie zumindest eine Massenflucht verhindern. Eine allgemeine Bargeldobergrenze, erst einmal eingeführt, lässt sich nach und nach herunterregeln. Noch mehr Kontrollmöglichkeiten bietet der Digitaleuro.

„Für Zahlungsempfänger wie Händler und kleine Unternehmen“, heißt es dazu auf der Webseite der EZB, „wäre er eine zusätzliche Möglichkeit, Zahlungen von ihren Kunden zu erhalten.“ Gibt es das elektronische Geld erst einmal, das Bürger dann auf Mobiltelefonen der in elektronischen Börsen speichern können, dann wäre es nur ein nächster Schritt, um die Bargeldannahme in Geschäften stark einzuschränken. Scheine und Münzen würden dann zwar noch im Milliardenwert zirkulieren. Sie ließen sich aber nur noch begrenzt nutzen. Dazu passt die so genannte Machbarkeitsstudie für ein Vermögensregister auf EU-Ebene, in dem auch erfasst werden soll, was in Safes lagert.

Natürlich handelte es sich bei der Sperranlage, mit denen die DDR-Oberen ihr Land ab 1961 abriegelten, um eine blutige Angelegenheit, ganz im Gegensatz zur Bargeldgrenze. Und überhaupt unterscheiden sich die Gesellschaften stark. Trotzdem gibt es ein ähnliches Muster: hier wie da führt die Regierungspolitik dazu, dass Menschen in großer Zahl ihren Konsequenzen ausweichen. Hier wie dort reagiert die Führung darauf nicht damit, ihre Politik zu überdenken, sondern die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einzuengen. In beiden Fällen klingt die Begründung verlogen; die Bargeldeinschränkung dient genauso viel oder wenig zur Korruptionsbekämpfung wie der DDR-Schutzwall dem Antifaschismus.

Und es zeichnet sich auch schon ab, dass ähnlich wie bei der Maskenbenutzung im Freien und bei der Corona-Impfung auch die Frage, wie frei oder reguliert jemand von seinem Bargeld Gebrauch machen will, zu einer weiteren Trennline zwischen wohlgesinnt und verworfen werden wird, selbst dann, wenn nur ein einziger FDP-Abgeordneter gegen eine Bargeldobergrenze argumentiert.

Screenshot via Twitter / Stefan Rahmstorf

Das Bürgergeld wäre nach jetziger Planung der Einstieg in das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Grunderbe, also eine hundertprozentige Erbschaftssteuer mit entsprechender Umverteilung wetterleuchtet schon.

Screenshot via Twitter / AndreasKemper

Das klingt nach heutigen Maßstäben fantastisch. Allerdings: So klang die Idee des Grundeinkommens vor zehn Jahren auch. Dem Staat wird, falls er bei diesem Kurs bleibt, nichts anderes übrigbleiben, als immer höhere Steuern und Abgaben aus einem immer kleineren Teich zu schöpfen. Über der regulären Steuer- und Abgabenzahlerklasse steht eine Schicht, die keinen gesteigerten Wert auf Bargeld legt, weil das, was sie beansprucht und erhält, als Überweisung auf ihre Konten fließt, ob als Gehalt im Staatsdienst, Transfer im Rahmen des Programms „Demokratie leben“ oder gleich im Demokratieabgabensektor.

 

Screenshot via Twitter / ÖRR Blog

Unterhalb fordert die Bürgergeldklasse ihren Teil. Sie lockt aber auch. Beide müssen bedient werden. Zu diesem Zweck steigt im kommenden Jahr erst einmal die Erbschaftssteuer für Immobilien um gut 500 Prozent. Angesichts der Migration in die Sozialsysteme einerseits und der Demographie andererseits – ab 2030 ff. verlassen die so genannten Boomer die Zahlerseite in Richtung Rente – muss der Staat unabhängig von der jeweiligen Koalition den Steuerdruck auf die Verbliebenen erhöhen, und gleichzeitig das seitliche Ausweichen verhindern, wo es nur geht.

Von der Natur des Barzahlungsmittels wusste der österreichischen Autor Johann Nepomuk Nestroy mehr als ein Dutzend Wirtschaftsweise. In seiner Frage: „die Phönizier haben das Geld erfunden – aber warum so wenig?“ steckt alles wirklich Wichtige: erstens, dass Wert und Knappheit zusammengehören. Und zweitens, dass dieser Wert nur dann wirklich Vertrauen erzeugt, wenn er in Scheinen und Münzen steckt. Am besten natürlich in Gold und Silber wie zu den Zeiten des Dichters.
Von ihm stammt auch der ideale Satz für jeden, der sich mit finanziellen Fragen aus welchem Grund auch immer nicht befassen will: „Ich rechne nie. Auf die Art kann’s Schicksal mir auch nie einen Strich durch die Rechnung machen.“


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