Es war eine dieser Brüsseler Nächte, in denen es zwei Mal tagt. Eigentlich hatte Chefunterhändler Michel Barnier den Briten eine Deadline bis Mitternacht gesetzt. Doch erst nach zwei durchwachten Nächten und Tagen war das neue Abkommen zwischen der EU und Großbritannien fertig, wie Jean-Claude Juncker triumphal auf Twitter verkündete: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal – wir haben einen!« Das britische Pfund hatte schon zuvor ein Fünf-Monats-Hoch in Hoffnung auf eine Lösung des Brexit-Durcheinanders erreicht. Später schloss Juncker eine Verlängerung der Austrittsfrist kategorisch aus; der Brexit müsse nun vollzogen werden. Auch dieses Statement könnte zum Deal mit Johnson gehören.
Zuvor hatte sich eine Art Zwei-plus-vier-Gespräch abgespielt – nur sollten nicht zwei Länder vereinigt, sondern vielmehr voneinander getrennt werden. Für die beiden staatlichen Entitäten auf der irischen Insel – die Republik Irland und das britische Nordirland – musste ein Zwischenweg gefunden werden, der Nordirland in der britischen Zollunion belässt, aber die darum nötigen Kontrollen abseits der irisch-nordirischen Grenze stattfinden lässt – angeblich um das Wiederaufflackern des IRA-Terrors zu verhindern. Gemäß dem gefundenen Kompromiss sollen nun die Regeln der britischen Zollunion angewandt werden, solange ein Gut nicht »in Gefahr« ist, in den Binnenmarkt der EU exportiert zu werden. Das entspricht etwa dem Vorschlag einer virtuellen Zollgrenze in der Irischen See, also den »alternative arrangements«, die Johnson ins Spiel gebracht hatte. Zudem hat das nordirische Parlament nun das Recht, das spezielle Verhältnis mit der EU zu gegebener Zeit zu beenden.
Das Gelingen der Operation wird sich am Sonnabend erweisen
Doch der Irland-Kompromiss bleibt ein Hemmschuh der Einigung. Die nordirischen Unionisten von der DUP, deren Stimmen Johnson im Unterhaus gut brauchen könnte, verweigern ihre Zustimmung bis jetzt. Den zehn Abgeordneten der DUP wird aber inzwischen keine Veto-Macht in Sachen des Austrittsvertrags mehr zugestanden. Daneben haben erwartungsgemäß auch Jeremy Corbyn für Labour und Jo Swinson für die ebenfalls oppositionellen Liberaldemokraten ihre brüske Ablehnung des neuen Abkommens öffentlich gemacht. Der eine will bekanntlich ein neues Referendum, die andere den Widerruf des gesamten Austritts. Trotzdem bleibt möglich, dass einige Labour-Abgeordnete für den Deal stimmen und so Johnson zu einer alternativen Mehrheit verhelfen könnten. Das Gelingen oder Scheitern dieser Operation wird sich am Sonnabend erweisen, wenn – wie von den EU-Vertretern gefordert – eine Sondersitzung des Unterhauses mit einer Probeabstimmung stattfinden soll.
Kritik am neuen Austrittsvertrag kommt auch von Nigel Farage von der Brexit Party, die freilich noch nicht in Westminster vertreten ist, aber den Konservativen bei Neuwahlen schaden könnte: Dieses Abkommen bedeute keinen wirklichen Austritt aus der EU, Unionsregeln müssten im Falle eines künftigen EU-Freihandelsvertrags auch in Großbritannien angewandt werden, dann würden auch Fischereirechte wieder an EU-Mitglieder abgetreten werden.
Unsicher sind dagegen die Stimmen der 21 Rebellen geworden, die ihre Mitgliedschaft in der konservativen Partei ja über den sogenannten Benn Act verloren haben, also auf jeden Fall ein Austrittsabkommen wollten. Logisch wäre aber, dass zumindest einige von ihnen auch Johnsons »verbessertem« Vertrag zustimmen werden. Johnson braucht – neben seiner eigenen Fraktion – noch gut 30 Stimmen, um sein Abkommen durchs Unterhaus zu bringen.
Mit einmaligem Windsor-Degout brachte die Queen die Worte »freundschaftliche Kooperation« hervor
Vorausgegangen war den Brüsseler Verhandlungen die Thronrede der britischen Königin. Nicht ganz einträchtig waren Boris Johnson und Jeremy Corbyn da den Mittelgang des Unterhauses entlang geschritten: Johnson wollte leutselig plaudern, Corbyn eindeutig nicht. Die Queen trug dieses Mal zwar nicht Blau und Gelb (die Farben der EU) wie bei der eilig anberaumten Thronrede 2017, aber doch das Weiß der unschuldigen Hände und brachte zumal die Worte »freundschaftliche Kooperation« (der Briten mit ihren europäischen Nachbarn) mit dem einmaligen Windsor-Degout hervor, den man wohl als großmütterliche Ermahnung zu gutem Benehmen verstehen konnte. Im Übrigen könnte die Thronrede ein neuer Grund für den von Labour so dringend benötigten Aufschub von Neuwahlen werden. (Umfragen sehen einen kontinuierlichen Anstieg der Werte für Johnson und seine Partei seit Ende September.)
Keir Starmer, der Mann hinter Jeremy Corbyn, bemerkte, dass mit einer Rede der Monarchin nunmehr eine neue Parlamentssitzung begonnen habe, die nicht zu bald enden solle. Vielleicht finden sich ja tatsächlich einige Gesetzesentwürfe unter Johnsons Agenda, denen auch das Unterhaus in seiner derzeitigen, etwas veralteten Zusammensetzung zustimmen könnte. Johnson jedenfalls präsentierte sich nach der Thronrede nachdrücklich als »One-Nation-Tory«, will also eine Politik gerade auch für die weniger Vermögenden machen, die besonders unter Kriminalität und einem ineffizienten Gesundheitssystem zu leiden hätten.
In Brüssel wurde auch das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU erneut diskutiert, das Gegenstand einer »politischen Erklärung« im Anhang des Vertrags ist. Für die EU-Vertreter war dabei vor allem wichtig, dass es nicht zu einem »ruinösen« Wettbewerb mit den Briten kommt, nachdem Johnson im Unterhaus ein Großbritannien der »hohen Löhne und niedrigen Steuern« versprochen hatte. Von Angela Merkel häuften sich zuletzt die Hinweise, dass man mit Großbritannien in Zukunft einen scharfen Konkurrenten vor der eigenen Haustür habe. Ein »Singapur in der Nordsee« will die EU keinesfalls akzeptieren. Ähnliche Befürchtungen äußerte auch der französische Außenminister, der Ex-Sozialist Jean-Yves Le Drian. Kurzfristig profitieren aber wohl am ehesten die Franzosen vom Austritt Großbritanniens, gewinnt doch Paris als Finanzplatz vom Ausscheiden Londons. Außerdem ist damit eine weitere Mediterranisierung Europas besiegelt, die den Euro weich halten und stärkere Einschnitte in die staatlich gelenkte Wirtschaft Frankreich vermeidbar machen wird.