Tichys Einblick
Mutter schreibt an bayrischen Minister

„Den Bezug zur Realität völlig verloren“

Einer Mutter ist aufgrund des Distanzunterrichts der Kragen geplatzt. Über Facebook schreibt sie einen offenen Brandbrief an den bayrischen Kultusminister Michael Piazolo. Ein Dokument der blank liegenden Nerven.

Symbolbild

IMAGO / Science Photo Library

Der Facebook-Post ist mit der Markierung „fühlt sich frustriert“ versehen. Der Hinweis wäre allerdings unnötig gewesen, denn den Frust merkt man Ulrike Eifert bei der Lektüre des öffentlichen Brandbriefs an den bayrischen Kultusminister Michel Piazolo an. Und offensichtlich spricht sie vielen Eltern in Lockdown-Zeiten aus dem Herzen: mehr als 7000 mal mit „Gefällt mir“ markiert, mehr als 1000 mal kommentiert und mehr als 7000 mal geteilt wurde der Text seit dem 3. Februar.

Wir dokumentieren das Schreiben:

„Sehr geehrter Herr Prof. Piazolo,
ich teile Ihnen mit, dass ich zu meinem eigenen gesundheitlichen Schutz und zum Schutz unserer Kinder die Streichung der Faschingsferien nicht akzeptieren und daher meine Kinder für diesen Zeitraum nicht am Unterricht teilnehmen lassen werde.

Wir sind eine gut situierte Patchwork-Familie mit 5 Kindern, beide Eltern arbeiten die meiste Zeit von zu Hause aus, sind Akademiker und deutschsprachig. Wir haben für jedes Kind ein eigenes Arbeitszimmer und genug Tablets/PCs, damit jedes Kind jederzeit auf den Online-Unterricht zugreifen und an den Konferenzen teilnehmen kann. Noch dazu leben wir im Allgäu und haben also auch die Möglichkeiten, ohne großen Zeitaufwand für entsprechenden Ausgleich zum Lernen zu sorgen.
Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Ablauf des Homeschoolings sind also denkbar gut, verglichen mit der Situation in der sich viele andere Familien aktuell befinden.

Neben den generellen durch die Pandemie bedingten Einschränkungen und Unsicherheiten tragen die beruflichen Belastungen als Notärztin und existenziellen Sorgen als Bergführer aktuell trotzdem dazu bei, dass die Belastbarkeit innerhalb der Familie deutlich abnimmt.

Wie die meisten anderen Familien wohl auch versuchen wir dennoch seit Wochen, dass unsere Kinder keinen Stoff verpassen, ihre Aufträge rechtzeitig und vollständig an die Lehrer zurückschicken, das Arbeiten mit dem Computer erlernen und ihnen zu Verfügung zu stehen, wann immer sie Hilfe und Unterstützung brauchen. Bis mindestens mittags um eins ist das ein Fulltimejob, nicht nur für die Erwachsenen.
6 Stunden lang selbstständig Aufgaben bearbeiten ist um ein Vielfaches anstrengender, als im Präsenzunterricht zu sitzen. Wir bemerken, wie unsere Kinder zunehmend von Schule und der einsamen Arbeit zu Hause frustriert sind, der Mangel an Sozialkontakten belastet sie alle immer mehr. Ich finde die Achtjährige weinend über ihren Matheaufgaben sitzen und einen 12jährigen, der sofort in die Luft geht, wenn man ihn auf Fehler hinweist. Die andere 12jährige verzweifelt daran, dass sie ständig aus der Konferenz fliegt und an einem Tag 3 Seiten Vokabeln zu lernen aufbekommt. Es fließen inzwischen Tränen wegen Dingen, die vor Monaten noch niemanden groß gejuckt hätten.

Die Tage, an denen es hier gut läuft werden immer seltener, wir alle brauchen dringend eine Erholungspause.

Zeit zum Lesen
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Gespräche mit Freunden und anderen Familien, Lehrern und Schülern zeigen, dass wir das nicht alleine so empfinden und dass die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme von den Betroffenen stark angezweifelt wird. Es macht den Eindruck, dass das Kultusministerium den Bezug zur Realität völlig verloren hat. Sei es, dass die online Petition offenbar folgenlos verpufft ist, oder Proteste verschiedener Eltern- und Lehrerverbände nicht ernst genommen werden. Das Wichtigste scheint zu sein, den Lehrplan auf Teufel komm raus durchzudrücken. Lehrer sind gezwungen, Noten wie auch immer zu machen und Kindern und Eltern entsteht dadurch massiver Druck, neben Arbeit und Familie auch noch die Schule komplett unter einen Hut zu bekommen.

Und ich habe keine Lust mehr, abzuwarten, bis am 12.2. nachmittags eine Entscheidung bezüglich der Faschingsferien gefallen ist. Ich habe Lust, mit meinen Kindern auch mal wieder etwas Schönes zu planen. Ferien zum Beispiel.
Herr Piazolo, es ist jetzt 15 Uhr, das Mittagessen ist wieder mal ausgefallen, zum Kochen hatte heute keiner Zeit, dafür weiß mein 12jähriger jetzt, wie man Wirbeltierklassen einordnet (bis morgen voraussichtlich). Wir werden jetzt noch mit den Kindern rausgehen. Lange wird das nicht sein, wenn wenigstens heute Abend etwas Warmes auf dem Tisch stehen soll. Vom Rest des Alltagsgeschäfts, der heute schulbedingt wieder liegen geblieben ist, ganz zu schweigen.

Ich halte Schulschließungen für eine sinnvolle und notwendige Maßnahme im Rahmen der Pandemiebekämpfung und ganz sicher gehöre ich nicht zu den Personen, die grundsätzlich wissen, wie man es hätte besser machen können.
Was ich schon weiß, ist, wann meine persönliche Belastungs- und Akzeptanzgrenze erreicht ist und dass ich Ärztin und keine Pädagogin bin. Und dass ich nicht zulassen werde, dass das krampfhafte Festklammern an Lehrplänen auf unseren Rücken und denen unserer Kinder ausgetragen wird.

Nicht wegen Biologie und Geschichte und schon gar nicht wegen Religion.

Mit freundlichen Grüßen,

Ulrike Eifert“

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