Die Aussagen von Boris Palmer in der gestrigen Talkshow von Sandra Maischberger passten ganz in das Bild, das der von einem Parteiausschluss bedrohte grüne Tübinger Oberbürgermeister seit Ende Dezember in mehreren öffentlichen Auftritten von sich zeichnete. Nämlich das von einem ganz besonders eifrigen Befürworter der Impfpflicht und anderer harter Maßnahmen gegen Ungeimpfte. Ende Dezember hatte er via Bild-Zeitung zunächst gefordert, man solle „Pensionszahlungen, die Rentenzahlungen oder eben den Zutritt zum Arbeitsplatz abhängig machen von der Vorlage eines Impfnachweises“, und dann in der FAZ gesagt, Ungeimpfte dürften „nicht die Solidarität der gesetzlichen Krankenversicherung verlangen“, um schließlich via Facebook einer Impfverweigerin zu entgegnen, „für Leute wie Sie muss die Impfpflicht her, gerne bis zur Beugehaft.“
„Bitte bedenkt auch: Ein laufendes Parteiausschlussverfahren schließt aus, dass gleichzeitig ein faires Ringen um eine Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt stattfinden kann. Denn es geht nicht, dass Boris als Kandidat für das OB-Amt nominiert wird und kurz darauf – möglicherweise noch im Wahlkampf – die Schiedskommission entscheidet, ihn aus der Partei auszuschließen.“
Initiiert wurde die Erklärung von Uschi Eid, die 1998 bis 2005 Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war. Sie hatte im vergangenen Jahr schon einmal eine ähnliche öffentliche Erklärung für Palmer initiiert, die damals unter den rund 125.000 grünen Parteimitgliedern aber lediglich neunzig Unterstützer fand und weitgehend verpuffte. Ihrer neuen Initiative angeschlossen haben sich inzwischen mehr als fünfhundert Parteimitglieder, mehrheitlich aus Baden-Württemberg, darunter der ehemalige Staatskanzlei-Chef von Winfried Kretschmann, Klaus-Peter Murawski, sowie der frühere baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller. Hinzu kommt als Vertreter des älteren Parteiestablishments Rezzo Schlauch (2002 bis 2005 grüner Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit), der Palmer im Ausschlussverfahren als Rechtsanwalt vertritt. Ob es sich bei den anderen Unterstützern ebenfalls vorwiegend oder gar ausschließlich um ausgemusterte Partei-Veteranen handelt, ist nicht bekannt. Namen aus der derzeit aktiven ersten oder zweiten Reihe der Grünen sind in dem Unterstützerkreis aber offenbar nicht vertreten.
Auch davon ist bei den inzwischen zu Amt und Würden gekommenen Grünen nicht mehr viel übrig, wenn es darum geht, Kritiker und Gegner der eigenen politischen Weltsicht mundtot zu machen. So blieben Palmers autoritäre Ausfälle gegen Umgeimpfte seitens seiner Parteifreunde unwidersprochen. Dementsprechend zählen seine Unterstützer diese Aussagen auch nicht zu denen, die sie als „unpassend, geschmacklos, beleidigend oder verstörend“ und als Grund für das Ausschlussverfahren deklarieren. Derlei Attribute bleiben vielmehr ausschließlich für einige seiner bisherigen Äußerungen gegen Asylzuwanderer reserviert. In seiner Corona-Politik gilt er seinen Unterstützern hingegen durchweg als vorbildlich. Bescheinigt werden ihm in der fraglichen Erklärung unter anderem „umsichtige und vorausschauende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ unter Verweis auf die von ihm in Tübingen verfolgte Teststrategie.
Ob für das erfolgreiche Beschreiten dieses Wegs die Re-Aktivierung grüner Basisdemokratie das geeignete Mittel ist, muss freilich bezweifelt werden, prägt die „Wokeness“ in Fragen der Migrations- und Identitätspolitik inzwischen doch nicht nur das Selbstverständnis der Parteispitze, sondern weiter Teile der grünen Basis. Beide halten Palmer genau deswegen mehrheitlich für einen „Rassisten“, der aus der Partei ausgeschlossen gehört. Chancenreicher dürfte demgegenüber der Ansatz sein, ihn als einen Lokalpolitiker zu inszenieren, der entschieden für eine Klima- und Coronapolitik eintritt, die auch vor (staats-)autoritären Mitteln nicht zurückschreckt. Dies könnte die Linie sein, auf der sich der Tübinger OB, ohne selbst „woke“ werden zu müssen, zum Zweck seiner Wiederwahl mit dem Mainstream seiner Partei wieder versöhnt, der zusehends autoritärere Züge annimmt. Dafür müssten sich dann allerdings nicht nur einige Parteiveteranen, sondern namhafte und einflussreiche Funktionäre aus den vorderen Reihen der Grünen öffentlich für ihn stark machen. Danach sieht es derzeit aber nicht aus.