Tichys Einblick
Grüner Querdenker im Gespräch

Boris Palmer über die Grünen, die Moral und die Vernunft

Kein Grüner ist beim Volk erfolgreicher: Fast zwei Drittel der Tübinger wählten Boris Palmer zu ihrem Oberbürgermeister. Und kein Grüner ist in seiner Partei so umstritten: Robert Habeck distanziert sich, Claudia Roth legt ihm den Parteiaustritt nahe. Ein Interview über Heilslehren, das Internet und Bürgerkrieg.

(c) Andy Ridder

(c) Andy Ridder

Tichys Einblick (TE): In Ihrem Bundesland Baden-Württemberg erreicht Ihre Partei mit 38 Prozent gerade einen neuen Umfrage-Rekord. Wie viele dieser Bürger wollen die Grünen wegen Boris Palmer wählen – und wie viele eher trotz Boris Palmer?

Boris Palmer (BP): Die wollen fast alle die Grünen wegen Winfried Kretschmann wählen.

TE: In Ihrem neuen Buch schonen Sie weder die Politik insgesamt noch Ihre eigene Partei im Speziellen. Welche These wird den meisten Streit verursachen?

Das neue Buch des streitbaren OB Tübingens
Boris Palmer: Erst die Fakten, dann die Moral
BP: Ich bin selbst gespannt. Aber wahrscheinlich wird es keine Kernthese sein, sondern irgendeine Nebensache. So laufen ja die Empörungsdebatten in Deutschland immer ab: Man greift sich irgendetwas Nebensächliches heraus, wo aber Reizwörter vorkommen – Flüchtlinge, Rassismus, Gender, Identität – und dann macht man daraus ein großes Ding. Meine Kernthese ist, dass wir in Deutschland auf allen Seiten des politischen Spektrums immer mehr irrationalen Heilslehren hinterherlaufen und die Wirklichkeit nur noch dann zur Kenntnis nehmen, wenn sie in unsere moralischen Konzepte passt.

TE: Woran liegt das, dass wir eher glauben als wissen wollen?

BP: Das Internet hat Fakten an jedem Ort zu jeder Zeit verfügbar gemacht. Aber es hat trotzdem kein neues Zeitalter der Tatsachen eröffnet, sondern stattdessen das Zeitalter der „alternativen Fakten“ eingeläutet: Da sucht sich jeder einfach das heraus, was ihm gerade so ins Konzept passt. So zerlegt sich unsere Gesellschaft immer mehr in Gruppen, die jeweils eigenen Heilslehren anhängen und sich einfach nur noch das ansehen, was die eigene Weltsicht bestärkt. Dank der Algorithmen zeigt das Internet ihnen irgendwann auch gar nichts anderes mehr an. Es fehlt die Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen und nach objektivem Wissen zu suchen, bevor man moralische Filter über die Welt laufen lässt.

TE: Wann ist das passiert?

BP: Gute Frage. Es hat sicher etwas mit dem Internet zu tun, das eine Individualisierung gebracht hat, aber eben auch eine Fragmentierung der Gesellschaft. Das Internet macht es sehr einfach, unbequeme Wahrheiten auszublenden. Das begünstigt Heilslehren sehr. Um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken, sollten wir deshalb viel mehr Energie darauf verwenden, Tatsachen zu ergründen, statt Kraft bei der Bekämpfung irgendwelcher konkurrierenden Heilslehren zu vergeuden. Weniger Moral, mehr Argumente.

TE: Nicht nur in der Politik, sondern sogar an den Universitäten scheint es derzeit aber genau in die andere Richtung zu laufen …?

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 BP: In der Politik, das merke ich jeden Tag, gibt es eine große Nachfrage nach tatsachenbasierten Entscheidungen. Ideologische Debatten schrecken die Leute eher ab. In der Wissenschaft – übrigens auch zum Beispiel am Theater – breitet sich derzeit tatsächlich ein unheilvolles, repressives Meinungsklima aus, in dem vorab festgelegt werden soll, was zulässige Argumente sein sollen und was nicht. Da wird der Prozess der Erkenntnis umgekehrt. Das ist eine unwissenschaftliche Verengung der Weltsicht, die uns kein Bisschen hilft.

TE: Welchen Anteil an dieser Entwicklung haben die verschiedenen politischen Strömungen?

BP: Was die Methode angeht, kann ich da leider keinen Unterschied erkennen. Es wechselt jeweils das Thema, aber das Prinzip bleibt gleich. Als Oberbürgermeister erlebe ich zum Beispiel täglich die katastrophalen Fehlentwicklungen am Wohnungsmarkt. Die Marktliberalen verweigern sich da einfach komplett der unbestreitbaren Tatsache, dass das mit dem Rückzug des Staates aus dem Sozialen Wohnungsbau und mit der Freigabe der Bodenpreise zu tun hat und kurzfristig nur durch staatliche Eingriffe korrigiert werden kann. Wenn es um die Frage geht, welche Erfolge bei der Integration von Flüchtlingen es schon gibt, dann weigert sich die AfD strikt, auch nur kleinste Tatsachen in dieser Richtung zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn es darum geht, die Probleme mit Flüchtlingskriminalität faktenbasiert anzusprechen, dann fehlt meiner Partei, den Grünen, jede Bereitschaft, das als Problem anzuerkennen. Fakten werden dann als Rassismus denunziert.

TE: Überall nur Schuldige?

BP: Faktenresistenz gibt es leider auf allen Seiten. Die Methode gleicht sich. Die Inhalte sind natürlich grundverschieden und aus meiner Sicht auch nicht gleichwertig: Wenn man Fakten ignoriert, um den Klimawandel zu leugnen – wie die AfD das tut – dann ist das aus meiner Sicht selbstzerstörerisch. Wenn man Fakten ignoriert, um sich nicht ein Marktversagen im Wohnungsbau eingestehen zu müssen – wie die FDP das tut – dann ist das zwar dieselbe Methode, aber natürlich ein ganz anderes Motiv.

TE: Haben Sie resigniert?

BP: Kein Bisschen. Denn die Mehrheit der Menschen insgesamt, da bin ich ganz sicher, ist auf der Seite der Fakten. Es sind jeweils besonders laute ideologische Minderheiten, die sich dagegenstellen. Deshalb gibt es da auch gar keinen Grund zur Verzweiflung – sondern nur Grund, mehr zu argumentieren.

TE: Auf der einen Seite wegen „Flüchtlingsnotstand“, auf der anderen Seite wegen „Klimanotstand“ wird vorgeschlagen, die jeweils angeblich besonders wichtigen Politikbereiche dem demokratischen Interessenausgleich zu entziehen. Was sagen Sie dazu?

BP: Davon halte ich natürlich gar nichts. Wenn die verschiedenen Heilslehren – die ja jeweils ganz verschiedene „Notstände“ postulieren – für sich beanspruchen, sich nicht mehr an die demokratischen Regeln halten zu müssen, dann steuern wir auf den Bürgerkrieg zu. Die Klimafrage ist wichtig, aber wir sind deshalb nicht in einem Notstand – genauso wenig wie wegen der Migranten.

TE: Kann es Politik ohne Moral geben?

Gespräch
Boris Palmer: „Ich bin kein Merkel-Fan“
 BP: Überhaupt nicht. Entscheidend ist die Reihenfolge: Zuerst muss man ergründen, was ist – und danach erst kommen die moralischen Werturteile. Dann beginnt eigentlich erst der politische Entscheidungsprozess: nach der unvoreingenommenen Betrachtung der Wirklichkeit, auf keinen Fall vorher. Das ist aber die Grundtendenz, die ich beklage: dass wir dabei sind zu verlernen, unbequeme Tatsachen zu ertragen – und sie durch einen moralischen Filter einfach ausblenden. Das ist quasi religiös und verdrängt die Aufklärung. Es ist Zeit für eine neue Aufklärung.

TE: Die Grünen vorn, die Union weit dahinter, die AfD stark, die SPD nähert sich der Fünf-Prozent-Hürde, FDP und Linke schwach: Kann sich die politische Verteilung in Baden-Württemberg auf ganz Deutschland übertragen?

BP: Das klingt erst einmal komisch. Aber wenn Sie vor zehn Jahren gefragt hätten, in welchem Bundesland es als erstes wohl diese Konstellation geben könnte, hätte auch niemand gesagt: Baden-Württemberg. Insofern kann es durchaus sein, dass das das künftige Schema für ganz Deutschland wird.

TE: Was kann Deutschland von Baden-Württemberg lernen?

BP: Die Baden-Württemberger haben einen Weg eingeschlagen, der ökonomische und ökologische Vernunft verbindet. Das ist das, was wir brauchen. Wir werden die Klimakrise nicht bewältigen, ohne die Wirtschaft so umzubauen, dass sie weiterhin Wohlstand erzeugt. Die Zerstörung der Wirtschaft, meinen ja manche, würde das Klima retten. Tatsächlich würde dabei aber die Menschheit schweren Schaden nehmen. Wenn wir zum Beispiel extrem kurzfristig auf alle fossilen Energieträger verzichten, bricht die Weltwirtschaft zusammen – mit verheerenden Folgen für Ernährung und Gesundheitsversorgung. Es geht also um Augenmaß, vernünftige Zeiträume – Rationalität eben.

TE: Was ist das beste Rezept gegen den Irrationalismus?

BP: Das wirksamste Gegenmittel ist das, was die Aufklärung seit 200 Jahren anbietet: sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude – wage es, weise zu sein: Das ist für mich immer noch die hoffnungsvollste Parole.


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