Tichys Einblick

Bodo Ramelow, die Linkspartei und der Begriff „Unrechtsstaat“

In der Debatte um den Charakter der DDR geht es nicht nur um ein Wort, sondern um einen Grundsatz: die Ablehnung der Diktatur und der Willkür. Dazu ist die LINKE nach wie vor nicht bereit.

© Jens Schlueter/Getty Images

Linkspartei-Politiker erklären immer wieder, warum sie sich weigern, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Auch Bodo Ramelow, der medial als sozialdemokratisch-bürgerlicher Vertreter der Linken gilt, will den Begriff nicht für den SED-Staat anwenden. Dafür führt er vor allem einen begriffsgeschichtlichen Grund an. Im Oktober 2019 sagte Ramelow im ZDF: 

„Der Begriff ‚Unrechtsstaat’ aber ist für mich persönlich unmittelbar und ausschließlich mit der Zeit der Nazi-Herrschaft und dem mutigen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seiner Verwendung des Rechtsbegriffs ‚Unrechtsstaat’ in den Auschwitz-Prozessen verbunden.“

In der Sendung von Sandra Maischberger am 12. Februar kurz nach seiner gescheiterten Wahl sagte er, darauf wieder angesprochen: „Der Unrechtsstaatsbegriff, den ich mich weigere auszusprechen, ist der von Fritz Bauer.“ Er, Ramelow, weigere sich, über dieses Stöckchen zu springen.

Zusammengefasst lautet seine Argumentation also: Den Begriff ‚Unrechtsstaaat’ prägte erst der damalige Ankläger in den NS-Prozessen Fritz Bauer exklusiv für die Auschwitz-Prozesse, vorher existierte die Wendung nicht. Wer ihn für einen anderen als den NS-Staat verwende, relativiere also Auschwitz. 

Eine denkwürdige Wahl in Thüringen
Bodo Ramelow im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt
Falsch ist schon die Behauptung Ramelows, Bauer habe den Begriff ‚Unrechtsstaat’ erst in den Auschwitzprozessen benutzt, also nach 1963. Tatsächlich verwendete Fritz Bauer den Terminus schon im Jahr 1952 in dem Remer-Prozess, einem Verfahren gegen den damaligen Vorsitzenden der „Sozialistischen Reichspartei“ Otto Ernst Remer. Remer, der als Kommandeur des Berliner Wachbataillons am 20. Juli 1944 entscheidend dazu beitrug, die Verschwörung gegen Hitler niederzuschlagen, hatte 1951 die Männer um Stauffenberg als vom Ausland gesteuerte Verräter beschimpft, die bald ihre Strafe empfangen würden. Auf Strafantrag des damaligen Bundesinnenministers Robert Lehr fand 1952 vor dem Landgericht Braunschweig der Prozess gegen Remer wegen der Verunglimpfung des Andenkens verstorbener statt. Formal ging es also um ein geringes Delikt, faktisch aber um nichts weniger als die Bewertung des nationalsozialistischen Staates und seiner Gegner. Mit ‚Unrechtsstaat’ charakterisierte Fritz Bauer das NS-Regime in seinem Plädoyer. Das Gericht nahm den Begriff in seinem Urteil auf: „Ein Staat, dessen Staatsführung aber derartiges Unrecht nicht nur duldet, sondern zur Durchsetzung der politischen Ziele unter Außerachtlassung der unabdingbaren Menschenrechte bewußt durchführt oder durchführen läßt, kann nicht mehr beanspruchen, als Rechtsstaat, d. h. als ein in jeder Beziehung unter Wahrung rechtsstaatlicher Garantien nach rechtsstaatlichen Grundsätzen regierter Staat bezeichnet zu werden.“ In diesem Sinne sei der nationalsozialistische Staat „als ein Unrechtsstaat anzusehen“.

Die Wendung ‚Unrechtsstaaat’ hatte Bauer allerdings 1952 nicht erfunden. Sie lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. 

Er entstand als Spiegelbegriff zu der damals noch jungen Bezeichnung ‚Rechtsstaat’, die 1813 von dem liberalen Rechtsgelehrten Carl Theodor Welcker geprägt wurde. Für Welcker zeichnete sich ein Rechtsstaat durch grundliegende Bürgerfreiheiten wie die Meinungsfreiheit, die Freiheit zur Auswanderung, das Petitionsrecht und die Öffentlichkeit des Regierungshandelns aus. Als erster verwendete der katholische Politiker und spätere Mitgründer der Zentrumspartei Peter Reichensperger die Wendung ‚Unrechtsstaat’, und zwar in der Sitzung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtages am 12. Februar 1853. „Ich denke“, so Reichensperger damals, „der Rechtsstaat besteht darin, dass der Obrigkeit das Schwert zum Schrecken der Bösen anvertraut ist, und zum Schutze derer, die in ihrem Recht sind, ihr Recht üben; einen Unrechtsstaat würde man dagegen meines Erachtens denjenigen zu nennen haben, welcher die Unruhestifter schützen und diejenigen bedrohen wollte, die in ihrem Rechte sind.“

So wie er benutzten und verstanden den Begriff ‚Unrechtsstaat’ auch andere im Kaiserreich und der Weimarer Republik: als Bezeichnung für einen Staat, in dem die Gewaltenteilung aufgehoben und das Recht der Politik unterworfen ist. Auch nach 1945 setzte sich nicht die Auffassung durch, ein ‚Unrechtsstaat’ beginne erst mit millionenfachem staatlichen Massenmord. Auf dem Parteitag der SPD 1956 in München hieß es zur DDR: „Es besteht gar kein Zweifel, und es darf kein Zweifel daran bestehen, dass wir in der Regierung der DDR eine Unrechtsregierung, einen Unrechtsstaat sehen.“

Der SPD-Vorsitzende Erich Ollenauer stellte in seiner Rede fest, in der DDR und allen anderen Ostblockstaaten würden der Bevölkerung elementare Freiheitsrechte vorenthalten; zwischen der SPD und den kommunistischen Parteien könnte es deshalb keinerlei Zusammenarbeit geben. 

Auf ihrem Parteitag 1971 bekräftigte die SPD den grundsätzlichen Unterschied zu den kommunistischen Parteien noch einmal ausdrücklich mit dem Rechtsstaatsbegriff, und sprach von dem „Gegensatz von Rechtsstaatlichkeit und Willkür, von freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“. Bis auf den linken Flügel der SPD, Teile der Grünen, die DKP und die K-Gruppen sahen das alle politischen Kräfte der Bundesrepublik prinzipiell genau so. Das änderte sich für die SPD allerdings nicht erst nach 1990, sondern schon vorher, und zwar in dem so genannten gemeinsamen Papier von SPD und SED von 1987 mit dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Hier verschwand die Definition der DDR als Unrechtsstaat völlig, die Abgrenzung zwischen Demokratie und Diktatur verschwamm zugunsten eines schwammigen „Wettbewerb der Systeme“. In dem Papier hieß es: „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, dass ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, dass beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt.“

Den Begriff ‚Unrechtsstaat’ für die DDR lehnte nach 1990 zunächst nur die SED-PDS empört ab. Der PDS-Bundestagsabgeordnete Jens-Uwe Heuer behauptete schon damals, ganz ähnlich wie Ramelow heute, ‚Unrechtsstaat’ im Bezug auf die DDR sein ein „Kampfbegriff“ zur Gleichsetzung der DDR „mit dem nazifaschistischen Staat“. 

In dem Maß, wie die PDS beziehungsweise die Linke ab 1994 zum Partner der SPD in Ostdeutschland aufrückte, übernahmen auch SPD-Politiker die Abwehr gegen die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat – mit teils bizarren Ausführungen. In einem Interview mit der FAZ  antwortete 2009 der damalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Erwin Sellering, ein westdeutscher Jurist, der nach 1990 im Osten Karriere machte, die DDR nicht erlebte und mit der PDS koalierte, auf die Frage: „War die DDR eine Diktatur?“ folgendes: 

„Sie war gewiss kein Rechtsstaat. Ich verwahre mich aber dagegen, die DDR als den totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab. Allerdings stimmt: Der Staat machte vielfach, was er wollte. Es gab keine Kontrolle durch unabhängige Gerichte. Insofern hat zur DDR immer auch ein Schuss Willkür und Abhängigkeit gehört.“

„Ein Schuss Willkür“ – mehr Verharmlosung für einen Staat ohne Gewaltenteilung und Wahlen, mit politischer Justiz, einem Geheimdienst als Instrument der herrschenden Partei, mit Todesschüssen an der Grenze war kaum möglich. Typisch und maßstabsetzend auch für andere Verharmloser war sein rhetorischer Kniff, vom „Guten“ zu sprechen, das es auch in der DDR gab. Natürlich gab es Gutes: Liebe, glückliche Ehen, private Freuden. Nur: Die gab es in der NS-Diktatur auch. Fast wörtlich nahm Sellering die Argumentation aus dem gemeinsamen SPD-SED-Papier auf: „Es ist ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.“ Auch bei seiner Wendung ‚idealer Staat’ für die alte Bundesrepublik handelt es sich um einen rhetorischen Taschenspielertrick: Erstens behauptet niemand, die Bundesrepublik sei ein idealer Staat, zweitens existiert etwas Ideales begriffsgemäß nur ideal, also der Realität entrückt. 

Zu den „Stärken der DDR“ zählte Sellering beispielsweise die DDR-Kindergärten. Die flächendeckende staatliche Kinderbetreuung, die er für vorbildlich hielt, glich in seinen Augen Bautzen, Todesschüsse und Zwangsadoptionen teilweise wieder aus.

In der Talkshow von Markus Lanz am 27. Februar 2020 verschob auch die Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping die Debatte um die Bezeichnung für die DDR wie Sellering und etliche andere ins Allgemeinmenschliche. Die Bezeichnung Unrechtsstaat für die DDR, dozierte sie, sei „eine Unterwerfungsgeste, die von Menschen aus dem Osten immer eingefordert wird“ – so, als ginge es dabei um ein Urteil über die private Lebensführung von allen früheren DDR-Insassen statt um den Charakter des Staates. 

Flankiert wird die Umdeutung der DDR zum einfach nur weniger erfolgreichen Systemkonkurrenten durch die in vielen Medien gängige Darstellung der Linkspartei als geläuterte linksdemokratische Partei. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn Politiker dieser Partei die Bezeichnung ‚Unrechtsstaat’ für die DDR ablehnen, dann handelt es sich nur um einen Begriffsstreit um die Vergangenheit. Prototypisch für diese Argumentation steht Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, der im Dezember 2019 mit Blick auf Thüringen und Bodo Ramelow schrieb: „Die Linke, einst PDS, hat sich in 30 Jahren nachhaltig demokratisiert. Die AfD hat sich in nur sechs Jahren nachhaltig radikalisiert und neonazifiziert. Mit einer AfD, die – so in Thüringen Spitzenkandidat Björn Höcke – vom Tausendjährigen Reich träumt, darf man nicht zusammenarbeiten; mit einer demokratisierten Linkspartei schon. Die ist keine linke AfD; sie kokettiert nicht extremistisch, sondern agiert demokratisch.“

Die „nachhaltige Demokratisierung“ der Linkspartei liegt allerdings eher an den äußeren Umständen, die heute dem Sozialismus im Weg stehen, als an einem Wechsel des Personals. In Ramelows Kabinett saßen (und sitzen voraussichtlich wieder) Bildungsminister Helmut Holter, ehemals SED-Betriebsparteisekretär im VEB Beton Nord in Miltendorf, 1985 Absolvent der Parteihochschule der KPdSU in Moskau, und dessen Vorgängerin Birgit Klaubert, seit 1973 SED-Mitglied. Landtagspräsidentin Birgit Keller gehörte der SED-Kreisleitung Sangerhausen an, der Landesgeschäftsführer der Thüringer Linken Mathias Günther diente in der DDR als Offizier der Grenztruppen, und arbeitete als IM der Staatssicherheit. 

Berlins Bausenatorin Katrin Lompscher, die dort federführend den (höchstwahrscheinlich verfassungswidrigen) Mietendeckel durchsetzte, ist seit 1981 Mitglied der SED. Vor allem in Berlin versucht die Linkspartei an die DDR anzuknüpfen, so weit es unter den Bedingungen der Bundesrepublik eben geht. In dem Strategiepapier „Eine neue verbindende Erzählung für die soziale Revolution“ vom Januar 2020 machen die Linkspartei-Politiker Katalina Gennburg und Niklas Stoll deutlich, dass der Mietendeckel nur ein Zwischenschritt sein kann: 

„Zur Strategie gehört es dann, die 99%, die nicht Teil dieser Elite sind, gegen diese Entwicklungen in Stellung zu bringen.

Diese 99% anzusprechen und dafür einen adäquaten Begriff zu bestimmen, der jenseits von “Klasse” eine Positionsbestimmung aller Lohnabhängigen ermöglicht, führt weniger Voraussetzungen mit sich und erlaubt Menschen ohne linken Hintergrund aber mit ähnlichem moralisch-ethischem Kompass, sich angesprochen zu fühlen. 

(…) Noch bevor der Senat am 22. Oktober 2019 den Gesetzesentwurf für den von unserer Senatorin Katrin Lompscher vorgelegten Mietendeckel beschlossen hatte kannte die Debatte im Kern nur noch eine Frage: Bist du für oder gegen Mieterhöhungen auf Kosten anderer, und das im Zweifel zulasten der besitzenden Klasse! Mirnixdirnix ist uns als LINKE ein Paradebeispiel für eine Klassenauseinandersetzung gelungen, die denjenigen, die nicht zur besitzenden Klasse gehören, ein Stück Freiheit zurückgibt. Das ist Klassenkampf par Excellence, aber es hätte nicht geholfen, dies vornan zu stellen. Dieser Kampf wird jetzt in den Staatsapparaten der BRD weitergeführt und ist noch lange nicht an seinem Ende angelangt.“ 

Die Sätze einer Linkspartei-Rednerin auf der Partei-Strategiekonferenz in Kassel vom 29. Februar bis zum 1. März über die „Erschießung des einen Prozent der Reichen“, die jetzt die Runde machen, knüpfen inhaltlich bruchlos an die Ausführungen von Gennburg und Stoll zu den „99 Prozent“ an. Sie geben ziemlich genau wieder, was in weiten Teilen der Partei gedacht wird. Die Rednerin verkündete in Kassel: 

Energiewende ist auch nötig nach ’ner Revolution. Und auch wenn wir det ein Prozent der Reichen erschossen haben, ist es immer noch so, dass wir heizen wollen, wir wollen uns fortbewegen. Naja, ist so!“ 

Nach ihrem Redebeitrag  meinte Parteichef Bernd Riexinger: „Ich wollt noch sagen, wir erschießen sie nicht, wir setzen sie schon für nützliche Arbeit ein.“ Daraufhin gab es Beifall und Heiterkeit im Publikum.

Bodo Ramelow distanzierte sich per Twitter umgehend: solche Gedankenspiele seien „mit meinem Wertekanon“ nicht vereinbar. Würde er das ernst meinen, dann dürfte er auch kein Problem damit haben, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen – denn in seiner Begriffsgeschichte trifft diese Wendung exakt auf den SED-Staat zu. 

Allerdings müsste er dann auch an der aktuellen Politik seiner Partei viel mehr ablehnen als die zu einem ungünstigen Zeitpunkt herausgerutschte Bemerkung seiner Genossin in Kassel.

Anzeige
Die mobile Version verlassen