Die Fakten: Marine Le Pen’s nationalistische Nationale Front erringt über ein Viertel der Stimmen und wird in sechs von 13 Regionen stärkste Partei. Marine Le Pen und ihre 25-jährige Nichte Marion Maréchal-Le Pen setzten sich mit rund 40 Prozent vor ihre Wettbewerber in Nord-Pas-de-Calais und Provence-Alpes-Côte d’Azur.
Die Zahlen (französisches Innenministerium): Front National mit 27,7% vor Nicolas Sarkozy’s Les Républicains und Verbündete mit 26,7% und François Hollande’s regierende Parti Socialiste plus Verbündete mit 23,1%.
Marine Le Pen sagte in RTL, „das Volk revoltiert gegen die Eliten“ und die Sozialisten begingen „Massen-Selbstmord“. Das ist wohl das Einzige, wo ich ihr zustimme. Meine linken Freunde überall in Europa wollen es noch nicht wahrhaben, und meine Freunde bei den Konservativen schließen in der Not die Reihen noch dichter: bloß nicht bewegen. Und die bei den Liberalen lassen wie immer nicht wirklich erkennen, ob sie überhaupt mitspielen oder ihrem Spaltpilz umso mehr nachgeben, je weniger es zu spalten gibt.
Rundet man die Wahlergebnisse auf und ab, sehen wir vor uns ein Bild mit drei etwa gleich großen Parteien oder Lagern, das sich in allen Ländern Europas bildet. Wobei alle drei eher unter als über je 30% landen. Der Probeblick nach Österreich ist der in den französischen Spiegel. Die skandinavischen Länder sind auf diesem Weg, die Osteuropa-Länder zum Teil schon dort. In Deutschland vollzieht sich das Gleiche – wie alles in Deutschland gedämpfter – und noch wirkt das Tabu rechtsextrem.
In Deutschland pirscht sich die AfD über die Wahlen in Bundesländern an. Ein deutliches Ost-West-Gefälle scheint mir wahrscheinlich: bis zu doppelt so hohen AfD-Ergebnissen im Osten. Anders als die AfD haben der Front National und die FPÖ ein soziales Milieu als Kern, das setzt der AfD Grenzen. In Paris und Wien werden sich die Parteien jenseits der beiden Außenseiter zu Regierungen zusammenfinden: in (nicht mehr ganz so) großen Koalitionen und Kohabitationen überall. Da wie dort werden Hollande und Merkel & Co. in solchen Zweckbündnissen versuchen, so viel von den Forderungen der Rechtsausleger zu übernehmen, um ihnen etwas Wasser abzugraben. Das hat Angela Merkel nun lange mit den Forderungen von Halblinks getan. Im Moment lässt sie der Frage nachspüren, wohin die Marschrichtung ihres Volkes dreht. Den Effekt können wir in Deutschland jetzt schon beobachten, wo der tatsächliche Kurs bald mit den Parolen von der Kommandobrücke nicht mehr viel zu tun hat – weder mit denen des Kapitäns noch des ersten Offiziers.
So lange die auf der Kommandobrücke sich über den künftigen Kurs des ganzen Staatsschiffes – nicht etwa nur in der Migrationsfrage – nicht grundlegend neu verständigen, setzt sich dieser Prozess fort: Halb zogen sie ihn, halb sank er hin. Auf diesem schwankenden Untergrund schwinden letzte Vertrauensreste in Demokratie und Recht. Ich wiederhole meine Frage: Wie weit ist es von Politikversagen zu Staats- und Systemversagen? Und füge hinzu: Wem ist das überhaupt bewusst?