In einem Punkt stimmen die Silvesterberichte aus Berlin und anderen deutschen Städten überein. „Wucht und Intensität“ der Gewalt, die sich gegen Polizei- und Rettungskräfte richtete, war mit keinem anderen Jahr vergleichbar. Und weder die warmen Temperaturen noch der Wegfall der leidigen Corona-Beschränkungen können das Phänomen erklären.
Straßenkämpfe haben sich als neue Regel etabliert. Inzwischen wird an mancher Stelle sozialpädagogisch argumentiert, in den betroffenen Vierteln geschehe es schnell, dass ziemlich radikal zwischen „innen“ und „außen“ unterschieden wird. Im NDR konstruierte der eingeladene Experte daraus das Motto: „Wir kämpfen jetzt um unseren Stadtteil“. Doch dabei gerät offenbar einiges in Vergessenheit – nicht nur, dass Silvester ist. Tatsächlich gab es in den besagten Stadtteilen nichts zu verteidigen außer dem Anspruch, Parallelgesellschaft zu sein.
In Berlin wurde nun der interne Abschlussbericht der Einsatzleitung abgeliefert, der das Ausmaß des Ausnahmezustands erahnen lässt. Der B.Z. liegt der fünfzehnseitige Abschlussbericht der Einsatzleitung vor, der eigentlich Verschlusssache („nur für den Dienstgebrauch“) ist. Zwischen Silvester und Neujahr, von 18 Uhr bis sechs Uhr früh, erreichten demnach 3.412 Notrufe die Berliner Polizei. 1.371 Gespräche gingen nach wenigen Sekunden „verloren“, wie es in dem Bericht heißt. Allein zwischen Mitternacht und ein Uhr gab es 615 Anrufe. 679 Notrufe gingen verloren. Aber das waren immer noch rund zehn Notrufe pro Minute. Auch bei einer gewissen Überschneidung der Notrufanlässe kann man sich vorstellen, dass nicht jedem Notruf nachgegangen werden konnte.
Schon kurz vor Mitternacht war der Polizeiführung laut B.Z. klar, dass das Gewaltproblem an diesem Abend massiv war. Das bedeutete letztlich auch die Ad-hoc-Umstrukturierung der Einsätze. Das wurde zum Beispiel im Multikulti-Norden von Neukölln notwendig, in dem sich die Lage bis 2.30 Uhr zu äußerster Brisanz aufheizte. Die Einsatzleitung musste die eigenen Kräfte „zur Brennpunktbewältigung“ umstrukturieren – mit anderen Worten: Es kam zum Großeinsatz in Neukölln, in der berüchtigten High-Deck-Siedlung (wo ein Bus ausbrannte), in der Sonnenallee und Sanderstraße. Der war aber nur möglich, weil Bundespolizisten derweil zentrale Punkte wie den Alexanderplatz oder das Brandenburger Tor sicherten.
Es wird unmittelbar evident, dass kaum eine Polizei mit einer solchen Belastung umgehen könnte – schon gar nicht in der deutschen Chaoshauptstadt. Am Silvesterabend waren 1.139 Beamte in Berlin im normalen Einsatz, die meisten (216) in Kreuzberg-Friedrichshain. Hinzu kamen 1.281 Beamte im Rahmen der Besonderen Aufbauorganisation (BAO), wie sie zu besonderen Anlässen „für umfangreiche und komplexe Aufgaben“ zum Einsatz kommt. In diesem Feld dürften auch die Bundespolizisten zu verorten sein, ohne deren Einsatz es laut Landespolizei noch um einiges schlimmer gekommen wäre.
Bodycams und Taser gab es – sie wurden nur nicht eingesetzt
47 Polizisten wurden in dieser Berliner Silvesternacht verletzt. Sechs mussten ihren Dienst abbrechen. Die restlichen 41 setzten ihren Dienst fort, 13 davon nach ambulanter Versorgung. Es kam zu 355 Strafanzeigen, 89 Mal wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz, wobei 74 Schreckschuss- und Signalwaffen beschlagnahmt wurden. Das kündet davon, dass der Waffeneinsatz alles andere als legal war. Bei einem Polizisten kam es nach einem Beschuss mit Schreckschussmunition zu Verbrennungen durch die Kleidung hindurch, wie Bilder zeigen.
132 Bodycams waren einsatzbereit, zum Einsatz kamen aber nur 47. Lediglich 17 Videosequenzen wurden gefilmt, was im internationalen Vergleich sicher wenig ist. Dabei können solche Aufnahmen – wie man etwa am Fall George Floyd sehen konnte – vieles auch noch im Nachhinein aufklären. Nun kann man auf die Schlagzeilen warten, dass in vielen Fällen keine Beweise gegen die über 100 Festgenommenen vorliegen. Justizsenatorin Lena Kreck (Linkspartei) warnte bereits vor kommenden langwierigen Ermittlungen. Die Urteile müssten vor allem eines: „fehlerfrei zustande kommen“.
Auch fünf Taser hatten die Polizisten zur Verfügung, setzten aber keinen ein. Man kann das auch als maßvollen Einsatz der Instrumente lesen. Vermutlich werden derlei Mittel aber von der Berliner politischen Führung (noch Rot-Grün-Rot, Neuwahlen kommen erst im Februar) nicht gerade ermutigt.
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