Tichys Einblick
zum Tatzeitpunkt unter rechtlicher Betreuung

Berliner Amokläufer stand unter rechtlicher Betreuung und wurde in Psychiatrie zwangseingewiesen – wenn ein System versagt

Der Amokläufer in Berlin war Psychotiker, nach TE-Informationen stand er unter rechtlicher Betreuung. Das Thema wird von vielen als nebensächlich ausgeblendet – TE warnte schon früh davor, unter anderem nach dem Anschlag in Hanau. Die Toten in Berlin sind direkte Folge eines woken Psychiatrie-Systems.

IMAGO / Stefan Zeitz

Update: 10. Juni, 20:00 Uhr: Nach den neusten Informationen, kam Gor H. in den Jahren zwischen 2014 und 2020 über die Polizei mehrfach mit dem sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf in Kontakt, weil er „psychisch auffällig“ war. Die Polizei soll ihn unter anderem mehrfach nach häuslicher Gewalt gemeldet haben – das erste Mal kam Gor H. mit der Polizei in Kontakt, als er noch Schüler war. Im Frühjahr 2020 wurde er dann wegen akuter Eigen- und Fremdgefährdung untergebracht. Nun liegen TE Informationen vor, dass der Mann bereits zum Tatzeitpunkt unter rechtlicher Betreuung stand.


Wie die Bild-Zeitung berichtet, wurde Gor H., der durch seine wahngetriebene Amokfahrt am Ku’Damm in Berlin eine Lehrerin tötete sowie 14 ihrer Schüler und drei weitere Menschen zum Teil schwer verletzte, im Jahr 2020 schon einmal wegen akuter Eigen- und Fremdgefährdung in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Der genaue Auslöser dafür ist bisher nicht bekannt, man kann aber davon ausgehen, dass Gor H. schon damals andere Menschen – seien es Familienangehörige, Nachbarn oder völlig Fremde – massiv bedroht oder verletzt hat oder eine Gefahr für sein eigenes Leben darstellte – denn nur dann kommt das Unterbringungsgesetz nach PsychKG zur Anwendung. Bis überhaupt jemand auf diesem Weg in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, muss in der Regel schon etwas wirklich Schlimmes passiert sein oder mindestens eine ganz akute Bedrohung vorliegen. Ich habe schon etliche Fälle miterlebt, in denen Psychotiker andere Leute anpöbelten, bespuckten, beleidigten und bedrohten, ohne dass Polizei oder Amtsgericht Anlass für eine Unterbringung sahen.

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Wie lange er sich in der Psychiatrie befand, ist unklar – er wurde „im Laufe des Jahres 2020 wieder entlassen“. Es ist aber davon auszugehen, dass er die Einrichtung nach sehr kurzer Zeit wieder verlassen konnte. Die Kranken dürfen nämlich nur so lange in der Psychiatrie festgehalten werden, bis keine akute Bedrohung mehr vorliegt – und da sind Ärzte und Psychiater meiner Erfahrung nach häufig sehr „wohlwollend“. Zumal schizophrene Patienten in vielen Fällen genau wissen, wie sie den Eindruck einer Besserung und Einsichtigkeit vermitteln können, vor allem wenn sie schon öfter Gast in der Psychiatrie waren. Wir hatten schon Betreute, die Passanten mit Messern oder Eisenstangen angegriffen haben, und nach wenigen Tagen wieder unbehelligt – und unbehandelt – durch die Straßen Berlins spazierten. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei Jibril A., der in Würzburg drei Frauen mit einem Messer tötete – er kam kurz vor der Tat in die Psychiatrie, wurde aber am nächsten Tag wieder entlassen. Und dass obwohl er, wie man wenig später erleben musste, weiterhin fremdgefährdend war.

Dazu kommt, dass Patienten auf den geschlossenen psychiatrischen Stationen der Berliner Krankenhäuser (richtige Psychiatrien gibt es bei uns dank der Enthospitalisierungs- und Antipsychiatriebewegung nämlich nicht mehr) seit der letzten Reformierung des PsychKG das Recht auf Ausgang haben, wenn es keinen großen Hof gibt – egal, warum sie da sind und wie akut ihr Zustand ist. Von den Ausgängen kommen sie dann häufig nicht wieder. Und selbst wenn ihnen die Tür nicht gleich geöffnet wird: Sie finden einen Weg aus dem Krankenhaus. Schizophrene sind krank, aber nicht dumm, innerhalb ihres Wahns sind sie sogar oft sehr clever. Einer unserer Klienten etwa legte einen Brand, um zu fliehen. Ein anderer verkleidete sich als Reinigungskraft.

Und selbst wenn ein Kranker in der Psychiatrie verbleibt, ist eine richtige Behandlung und dementsprechende Besserung des Krankheitsbildes nicht sicher: Die Richter scheuen sich häufig davor, bei Behandlungsuneinsichtigkeit eine Zwangsmedikation zu bewilligen, selbst wenn sie schon eine Zwangseinweisung beschlossen haben. Die Freiheit des Kranken wird über seine Gesundheit und seine Sicherheit sowie die aller anderen gestellt. Dabei sind die Betroffenen nach einer erfolgreichen Zwangsbehandlung oft von Herzen dankbar, dass man sie aus ihrem Wahn befreit hat – das habe ich schon ein paar Mal miterleben dürfen. Eine Betreute brachte uns über Monate immer wieder Blumen, obwohl wir ihr sagten, dass wir die nicht annehmen durften. Aber das war ihr egal – sie war so glücklich, dass sie, nach einer Zeit voller Verwahrlosung und Gewalt, wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnte, dass sie sich unbedingt erkenntlich zeigen wollte.

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Alles in allem ist davon auszugehen, dass Gor H. nicht so lange in der psychiatrischen Einrichtung verblieb, dass er sich dank medikamentöser Behandlung aus seiner psychotischen Episode befreien und längerfristig stabilisieren konnte – selbst wenn er Medikamente bekam, wirken die nicht sofort, sie sind keine Wundermittel. Nur dann, ohne den paranoiden Wahn, hätte aber zumindest die Möglichkeit bestanden, dass Gor H. auch außerhalb der Psychiatrie, langfristig und freiwillig seine Medikamente einnimmt – paranoid Schizophrene setzen ihre Medikamente häufig selbst ab oder verweigern die Einnahme komplett, weil sie denken, dass sie davon kontrolliert oder vergiftet werden.

Wäre Gor H. Im Jahre 2020 längerfristig und adäquat behandelt worden, statt auf die vermeintliche Freiheit des Kranken zu pochen und ihn damit in seiner Psychose gefangen zu halten, wäre es vielleicht nicht zu seiner Bluttat am Ku’damm gekommen.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.


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