Berlin ist schön, vor allem im Sommer, wenn man die U- und S-Bahn und die Busse nicht nutzen muss. Inzwischen gibt es eine Fraktion unter den Jungen wie Junggebliebenen, die bei fehlendem Auto fast ganzjährig auf das Fahrrad setzen und dafür winters durch die Straßen schlottern, weil ihnen die Berliner U-Bahn unerträglich geworden ist: zu viele Drogen, zu viel Mangel an Rücksicht, zu viel Unberechenbares. Es mag nur ein Gefühl sein, aber es dringt doch durch. Auch gestandene Frauen berichten vom Angstraum U-Bahn und unliebsamen Begegnungen, die es in der Zahl vor zehn oder 20 Jahren noch nicht gab.
Es ist dabei schon fast ein Phänomen, dass sich die allgemein gute Stimmung in der Hauptstadt hält, und das liegt wohl auch an der Distanz und der Fähigkeit zum Wegschauen, die eine große Stadt schafft. Die Sorge um eine überbordende Zuwanderung und die Angst vor sich ausbreitender Kriminalität gehörten zu den wichtigsten Wahlmotiven am vergangenen Sonntag in Thüringen und Sachsen. Dass auch die Berliner sich für diese Themen interessieren, ahnt man eher. Der Grund-Impetus der Stadt ist wurschtig, „es wird schon irgendwie gehen“, wir stören einander nicht, jeder soll nach seiner Fasson selig oder was auch immer werden. Und im Zweifel kotzt (und motzt) man irgendwo symbolisch in eine Ecke.
Fühlbar vorbei ist aber die Zeit, in der man es jungen Frauen zumuten konnte, auch bei Nacht ein Stück Wegs alleine zurückzulegen. Inzwischen wird das vielerorts nicht einmal am Tage empfohlen. Nun gibt es auch wieder offizielle Zahlen, die jene Ahnungen und individuellen Beobachtungen leider stützen.
Offiziell heraus geht damit die Information an all jene, die auch schon immer bei einem Verbrechen live dabei sein wollten: Die Chancen dafür steigen derzeit, vor allem, wenn man die Gelegenheit hat, den öffentlichen Nahverkehr in der deutschen Hauptstadt zu nutzen. Im Vergleich zum Vorjahr gab es laut den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und deren neuem „Sicherheitsbericht“ fast neun Prozent mehr Straftaten auf den U-Bahnhöfen, in U-Bahnen, Straßenbahn und Bussen. Insgesamt waren es 14.825 Delikte, im Vorjahr noch 13.709. Das soll ein Höchstwert mindestens der letzten zehn Jahre sein. Und klar ist: Es gibt Zuwanderung nach Berlin, und das nicht nur aus deutschen Landen. Aber wahr ist auch: Die Verbrechensdichte auf demselben Stadtraum hat damit zugenommen und damit auch die Chance, dass man so etwas miterlebt und direkt oder mittelbar davon betroffen wird.
Die BVG spricht dabei in erwartbarer Vernebelungssprache von einer „stabilen Sicherheitslage“, weil das Fahrgastaufkommen noch etwas stärker zunahm als die Straftaten insgesamt, angeblich um elf Prozent. Der starke Zuwachs ist auch etwas rätselhaft und kann wohl nicht dauerhaft so weitergehen. Aber ja, es wird enger. Und „Mehr Fahrgäste, mehr Verbrechen“ ist offenbar die Logik der Berliner Verkehrsbetriebe. Man rechnet offenbar mit einem stetigen Zufluss an schrägen Gestalten. Wenn der dann einmal etwas geringer ausfällt (der Zuwachs an Kriminalität wohlgemerkt), dann ist das schon ein Erfolg. Von einem sichereren Berlin, einer sichereren U-Bahn scheint keine Rede. Klar, politisch korrektes Marketing ist ja auch wichtiger als klare Kommunikation, wie Social-Media-Auftritte und Fahrkarten-Automaten der BVG zeigen.
Gewaltverbrechen steigen stark
Jener Befund kann aber ohnehin nur für die Straftaten insgesamt annähernd gelten. Von der zunehmenden Gefährdung der Fahrgäste durch Gewaltverbrechen auf Bahnhöfen und in den Fahrzeugen ist da noch keine Rede. Und hier ist das Motto dann – gemäß dem neuen Sarrrazin-Buchtitel – eher: Berlin, Sicherheit auf der schiefen Bahn. Die „physischen Delikte“, wie es im BVG-Unsicherheitsbericht heißt, stiegen nämlich um 17 Prozent von 3570 auf 4181 Straftaten und damit deutlich stärker als die Zahl der Fahrgäste der BVG. Die Wahrscheinlichkeit, dass man als Fahrgast in U-Bahn, Tram oder Bus- oder auf einem Bahnhof zum Opfer von Gewalt wird, ist damit stark gestiegen, fast um ein Fünftel im Vergleich zum Vorjahr.
Konkret gab es fast 36 Prozent mehr Raubüberfälle (388 im ganzen Jahr 2023, gut ein Raubüberfall pro Tag), fast 40 Prozent mehr Nötigungen (636 mal), zehn Prozent mehr Sachbeschädigungen (2027 Fälle). Auf konstant hohem Niveau blieben die Taschendiebstähle (4176 Fälle) und Drogendelikte (1051) an BVG-Bahnhöfen und in den Fahrzeugen. Deutlich gesunken sind allerdings die Sexualdelikte (um 17 Prozent auf 259 Fälle). Wurde die Hauptstadt also letztes Jahr etwas sicherer für Frauen? Das ist aber kein allgemeiner Trend, in ganz Berlin stiegen die Sexualdelikte 2023 vielmehr um 22,7 Prozent. Vielleicht haben hier also die Kameras in BVG-Busse und Bahnen geholfen. Dieselben dienen aber nicht der durchgängigen Überwachung, denn dazu fehlt sicher das Personal. Die Bilder können aber im Nachhinein von der Polizei angefragt werden.
Sicherheitsdienst verkleinert, der Vandalismus kostet Millionen
Die Video-Aufnahmen werden 48 Stunden lang aufbewahrt, eine Frist, die die Verkehrsbetriebe sogar gerne verlängern würden – das ist ein Indiz, dass man die Lage dann doch nicht als rundum bollig wahrnimmt. Die Politik, namentlich die mitregierende Berlin-SPD, zieht da aber nicht mit, weil 48 Stunden ja „angemessen“ seien.
Zugleich gab es merklich weniger Sicherheitsdienst in den Zügen und Bahnhöfen der BVG. Fast um ein Viertel sanken die geleisteten Stunden, weil man einem Vertragspartner wegen mangelnder Qualität kündigen musste und so schnell keinen Ersatz fand. Man möchte sich diese „mangelnde Qualität“ jetzt nicht so konkret vorstellen, denn angesichts der Natur von „Sicherheitsdiensten“ in Deutschland und Berlin speziell denkt man sofort an Gestalten, die man sich auch bruchlos auf der anderen Seite des kriminologischen Spektrums vorstellen könnte.
Apropos: ein unglaublicher „Polizeiskandal erschüttert Berlin“ laut dem Berliner Kurier in diesen Tagen. Es scheint so zu sein, dass zwei Polizeibeamte einem Autofahrer 57.000 Euro Bargeld und zwei Mobiltelephone abgenommen und – genauer gesagt – geklaut haben. Das passierte mutmaßlich bei einer Kontrolle auf der Stadtautobahn im August 2023, nach Dienstschluss der Polizisten. Außerdem sollen noch mehr Kollegen den Goldraub eines Berliner Polizisten aus einem Dienstschrank gedeckt haben, angeblich weil der Beamte spielsüchtig war.
Sich ausbreitende Gewaltverbrechen: Nun auch im Prenzl’berg
Derweil hat sich das rabiate Verbrechen auch schon in die grünen Trend-Viertel des Prenzlauer Bergs vorgetastet. Am Kollwitzplatz wurde nun eine Gruppe von Jugendlichen zum Opfer eines Raubs, begangen mit Hilfe einer Pistole und eines Schlagstocks. Es blieb bei Schlagwunden, Bargeldverlust und dem Schrecken. Die Gewaltkriminalität war zuletzt stadtweit stark angestiegen: so etwas 7,4 Prozent mehr Raubtaten, fünf Prozent mehr Messerangriffe und 17,5 Prozent mehr gefährliche und schwere Körperverletzungen insgesamt im öffentlichen Raum.
Übrigens hatte der Berliner Innen-Staatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) erst jüngst behauptet, die Gründe für den Anstieg der Messerangriffe in der Stadt seien „vielfältig und komplex“. Auch bei dieser Art Gewaltverbrechen – das sich zudem besonders an Bahnhöfen aller Art häuft – ist der hohe Ausländer- und Migrationsanteil allgemein bekannt. Häufig geht es um die Hälfte der Fälle und mehr. Allerdings: Die Frage des Berliner AfD-Abgeordneten Marc Vallendar nach den Vornamen der Messerangreifer wollte der CDU-geführte Senat in diesem Jahr nicht beantworten. Das ist umso merkwürdiger, als gerade die CDU nach den Berliner Silvester-Unruhen 2022 die Offenlegung der Vornamen der Täter gefordert hatte.
Und dann waren da noch die Kosten für die Behebung von Graffiti (inzwischen 1,4 Millionen Euro im Jahr, ein Plus von 200.000 Euro) und Vandalismus (Schäden von 3,5 Millionen Euro, auch hier ein Plus von 200.000 Euro). In Berlin gibt es eine zivile Soko Graffiti. Aber vom Erfolg sieht man noch nicht viel. Hier ist man schnell bei einem sehr pessimistischen Ausblick auf die deutsche Hauptstadt angekommen, die den Zustrom von immer mehr Menschen dann vielleicht doch nicht bewältigen kann, zumal wenn eigene Probleme meist wirtschaftlicher Natur ungelöst bleiben.