Bei politischen Veranstaltungen in Berlin Mitte sorgt meist die Frage für eine gewisse Spannung: Wer kommt? Die Diskussion der zwar CDU-nahen, aber unabhängigen Denkfabrik R21 am Montagabend am Gendarmenmarkt zog schon wegen ihres Themas viel Vorab-Aufmerksamkeit auf sich: „Rechts? Zur Abgrenzung des politisch Legitimen“. Es ging also um die Frage, wo die Grenze zwischen der demokratischen Rechten und dem Rechtsradikalismus verläuft. Aber noch stärker als mit dem Debattengegenstand beschäftigte sich der politisch-mediale Betrieb mit der Besetzung beziehungsweise Umbesetzung des Podiums.
Denn erst einmal hatte CDU-Generalsekretär Mario Czaja zugesagt – dann aber seine Teilnahme wieder zurückgezogen. Der Historiker Andreas Rödder, Direktor der Denkfabrik und bis vor kurzem Vorsitzender der CDU-Programmkommission, verkündet in seinem Eröffnungsstatement höflich, bei dem CDU-General habe es kurzfristige Terminänderungen gegeben. Ein mit der Materie Vertrauter drückt es unter vier Augen etwas direkter aus: „Ach was, Terminprobleme. Er hat einfach gekniffen.“
Die Debatte um den Begriff „rechts“ fällt in eine Zeit, in der mehrere Spitzenkräfte der Unionspartei in verschiedene Richtungen tasten, allerdings mit allergrößter Vorsicht. Denn bei der Richtungsbestimmung geht es auch um die Frage, wer die Partei künftig hier- oder dahin führen soll. Vor kurzem erschien in der FAZ ein Meinungsbeitrag von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst, in dem er der CDU mehr oder weniger zu einer Fortsetzung des Merkel-Kurses rät – also mit großem Abstand zu allem, was bei den Inhabern der Definitionsmacht als „rechts“ gelten könnte. Die Wortmeldung deuteten die meisten als gleichzeitigen Anspruch von Wüst, bei der Wahl des Kanzlerkandidaten für 2025 mitzureden. Am gleichen Montag, als R21 zur Diskussion lud, veröffentlichte die WELT einen Beitrag des neuen CDU-Programmkommissionsvorsitzenden Carsten Linnemann, der sich demonstrativ nicht auf Merkel bezog, sondern auf Adenauer. In der Umgebung des Parteivorsitzenden Friedrich Merz scheint derzeit die Parole zu gelten: abwarten. Und bloß keine falsche Bewegung machen.
Um zu der Diskussion am Gendarmenmarkt zurückzukommen: Dass für Czaja kurzfristig der thüringische CDU-Partei- und Fraktionschef Mario Voigt einsprang, machte den Abend wahrscheinlich interessanter. Denn Voigt begibt sich anders als die meisten Berliner Premium-Politiker oft in Kleinstädte und Dörfer eines Bundeslandes, in dem die AfD den Platz der stärksten Partei besetzt. Für die zweite Überraschung des Abends lieferte derjenige, der auf dem Podium formal als relativ linker Diskutant geladen war. Denn die schärfste Kritik auf dem Podium am politischen Juste milieu kam nicht von den Diskussionsteilnehmern, von denen man sie eher erwartet hätte – der früheren AfD- und heutigen parteilosen Bundestagsabgeordneten Joana Cotar, der früheren Familienministerin und R21-Mitgründerin Kristina Schröder oder Voigt –, sondern von dem früheren Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb, heute SPD, früher Mitglied der PDS. Wobei: Sozialdemokraten wie ihn gibt es nur wenige. Der Berufspolitik kehrte er schon seit längerer Zeit den Rücken. Die Runde führte jedenfalls den praktischen Beweis für Cotars Vermutung: „Das Links-Rechts-Schema spielt eigentlich keine Rolle mehr.“
In seiner Eröffnung erinnerte Rödder an das Anliegen der Denkfabrik: Es gehe darum, die „Debattenräume zu weiten“. Um dann über den Umgang mit dem Begriff „rechts“ zu sprechen: Der erste Schritt sei oft der mediale Stempel „umstritten“, dem dann meist die Bewertung „rechts“ folge. Von dort gehe es auf der Begriffsrutschbahn dann öfters übergangslos zu „rechtspopulistisch“ und „rechtsradikal“. Und dann, so Rödder, „ist es nur ein Schritt zur Bezeichnung ‚Nazi‘.“ Auf drei Gebieten erfolge die Stigmatisierung von Ansichten besonders schnell: Dem der Migrationspolitik – wer sie kritisiere, gelte aus Sicht derjenigen, die über Definitionsmacht gebieten, schnell als rassistisch. Zweitens in der Klimadebatte – wer hier von den gängigen Narrativen abweiche, würde oft als „Klimaleugner“ etikettiert, „ein Begriff, der nicht von ungefähr an ‚Holocaustleugner‘ erinnert“. Und drittens, zählte Rödder auf, bekämen diejenigen, die auf dem Gebiet Geschlecht und Sexualität beispielsweise darauf bestehen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gebe, flott die Bezeichnung „transphob“ angehängt. Für diese Art von Debattenführung, meinte er, gebe es in Deutschland eine Art Monopol, zumindest eine starke Machtposition: „Die Grünen verfügen über die Definitionsmacht, was gut und böse ist.“
Damit präzisierte der Historiker das Thema der Runde: Wo verlaufen die immer wieder bemühten „Grenzen des Sagbaren“? Und wer legt sie fest?
Voigt sagte, er weiche grundsätzlich keiner Debatte in Thüringen aus. Er habe in Thüringen beispielsweise auf einer Diskussionsveranstaltung mit AfD-Anhängern und Putin-Verehrern gestritten – und sei anschließend von anderen gefragt worden, wie er dort als CDU-Vertreter habe überhaupt hingehen können. Damit hätte er die Veranstaltung überhaupt erst legitimiert. Er habe, so Voigt, geantwortet: „Wenn ich dort die Chance habe, auch nur zehn Leute zu überzeugen, „dann war es das wert“.
Wer in der harten Konkurrenz Wähler gewinnen wolle, müsse sich dafür in die „Schlangengrube der Auseinandersetzung begeben“. Das, was immer wieder von wohlmeinenden Medien und Politikern gefordert werde, das gemeinsame Unterhaken von Union bis Linkspartei gegen die AfD, meinte er, sei kontraproduktiv, genauso wie die moralisierende Verachtung gegen Wähler etwa in Sonneberg. Herablassende Beiträge wie der von SPIEGEL-TV über Bewohner dieses Südthüringer Kreises hätten, wenn überhaupt, nur eine Wirkung: „Die Leute sagen sich: jetzt erst recht.“
Der Thüringer CDU-Parteichef wandte sich auch gegen den gängigen Vorwurf, wer Kritik etwa an der ungesteuerten Migration übe, sei Wegbereiter der AfD. „Die Union“, so Voigt, „muss wieder den Mut haben, Dinge auszusprechen, die bei Franz Josef Strauß normal waren.“ Gleichzeitig antwortete er auf die Frage des FAZ-Redakteurs Patrick Bahners aus dem Publikum – etwas überraschend angesichts dessen letzten Buchs „Die Wiederkehr. Die AfD und der deutsche Nationalismus“ –, ob es denn für die Union nicht an der Zeit sei, die „Brandmauer gegen die AfD abzurüsten“ und eine punktuelle Kooperation auszutesten „Mit denen nicht“, zog Voigt die Linie. Also nicht mit der Thüringer AfD unter Björn Höcke.
Die Ex-AfD-Politikerin Joana Cotar erinnerte daran, dass es in der politischen Auseinandersetzung längst nicht mehr nur um das Gesagte gehe. „Ich habe nichts gegen Kritik, auch nichts gegen harte Kritik“, meinte sie. Aber die Grenze sei erreicht, wenn jemand Polizeischutz brauche. Den habe sie wegen vieler Drohungen zeitweise benötigt. Gegen Politiker wie Normalbürger mit der Zuschreibung „rechts“ würden oft gar keine Argumente aufgeboten, sondern Methoden, die auf die Existenz zielten – Denunziation beim Arbeitgeber, Boykottaufrufe gegen Selbstständige, Drohungen gegen Mandatsträger. An der Abwendung vieler Wähler von den etablierten Parteien sei die AfD nicht schuld, sondern die grundsätzliche Entfremdung zwischen politischer Kaste und Bürgern. Sie höre am Wahlkampfstand und in anderen Gesprächen immer wieder den Satz: „Sie“ – also die Politiker in toto – „hören uns nicht zu“. Sie fühlten sich mit ihren konkreten Problemen in der Berliner Politik nicht mehr repräsentiert. Und: „Ich sehe nicht, dass die CDU diese Repräsentationslücke schließt.“
Ex-Ministerin Schröder merkte an, die Bürgerlichen hätten es „in den letzten 15 Jahren nicht geschafft, eigene Begriffe zu prägen“; sie würden zu oft und mitunter auch naiv versuchen, an linke Diskurse anzudocken. Mittlerweile gehe es längst nicht mehr um abstrakte Deutungshoheit: „Viele Leute haben das Gefühl: da kommen Ideen aus Berlin Mitte, die ihr Leben ganz konkret ändern sollen“ – vom Heizen bis zur Sprache. Der Versuch, für die Auseinandersetzung eigene Debattenbegriffe zu schärfen, habe zwar begonnen, etwa durch die Veranstaltungen von R21. Aber, so Schröder: „Wir stehen dabei am Anfang.“
Mit seiner Kritik zielte der exotische Sozialdemokrat Brodkorb nicht so sehr auf die Parteien, sondern auf den Staat selbst. Der zuallererst müsse ein Debattenklima sichern, in dem alle Meinungen geäußert werden könnten, solange sie nicht gegen Gesetze verstießen. Um das zu garantieren, habe sich der Staat zunächst einmal selbst entsprechend zu verhalten. Wenn der Verfassungsschutz beispielsweise ernsthaft meine, die „verfassungsschutzrelevante Staatslegitimerung“ fange schon an, wenn freiwillige Helfer nach der Ahrtal-Flut Hilfsgüter verteilt hätten, weil – so zitierte der Sozialdemokrat aus einem VS-Papier – dadurch der Eindruck entstünde, der Staat könnte diese Aufgabe nicht bewältigen, dann sei das „Wahnsinn“.
In der Politisierung des Verfassungsschutzes zeige sich, dass der Staat selbst mehr und mehr zum Kombattanten im politischen Meinungskampf werde. Als Beispiel für diese Grenzüberschreitung nannte Brodkorb die Aussage des thüringischen Verfassungsschutz-Chefs Stephan Kramer über den „braunen Bodensatz“, der AfD wähle. „Wenn ich Ministerpräsident wäre“, so der Ex-Minister aus Schwerin, „hätte ich den Verfassungsschutzchef für diesen Satz noch am gleichen Tag in den Ruhestand versetzt.“
Parteipolitische Bewertungen abzugeben, das sei eben ausdrücklich nicht die Aufgabe eines solchen Beamten, jedenfalls nicht in einem liberalen Staat. Hier, fand er, kämen die Verhältnisse grundsätzlich ins Rutschen: „Wenn der Staat nicht mehr bereit ist, die freie Meinungsäußerung zu verteidigen, dann haben wir ein Problem.“
Im Diktum der Wohlmeinenden äußerten an diesem Abend alle Diskutanten also umstrittene Ansichten, schoben an den Grenzen des Sagbaren herum und leisteten diesem oder jenem Vorschub – kurzum: Es handelte sich um einen Berliner Diskussionsabend, der weitgehend floskelfrei verlief.
Mit einem Streitgespräch zwischen Mathias Brodkorb und Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang über die Rolle des Staates und speziell des Inlandsgeheimdienstes könnten ARD, ZDF oder ein anderer Sender vermutlich einen Quotenhit landen.
Fast zeitgleich mit der Diskussion veröffentlichte Insa eine neue Wahlumfrage, in der die AfD 21 Prozent erreicht, die SPD 19, die Union aber auch nur bescheidene 25,5. Würde man die beiden Unionsschwestern getrennt ausweisen, dann fiele die eigentliche Nachricht sofort auf: Zurzeit steht die Partei, die einige mit einer Brandmauer einschließen wollen, deutschlandweit auf Platz eins.