Polen: An der weißrussischen Grenze droht ein größerer Durchbruch
Matthias Nikolaidis
Nun behauptet der weißrussische Präsident, die Migranten möglichst in ihre Herkunftsländer zurückführen zu wollen. Bilder von der Grenze zeigen anderes: Eine Massierung von Truppen und Medienvertretern auf der weißrussischen Seite lässt einen größeren Durchbruchsversuch erwarten.
Was passiert als nächstes im Konflikt zwischen Weißrussland und der EU? Wird Präsident Alexander Lukaschenko im Streit um die von ihm begünstigte Migrantenflut nun doch einlenken? Darauf scheinen Meldungen der französischen Nachrichtenagentur AFP und anderer hinzudeuten. Demnach wünscht Lukaschenko keinen »Konflikt« an den Landesgrenzen. Am Sonntag war die polnische Regierung davon ausgegangen, dass ein neuer Ansturm auf die eigenen Grenzen vorbereitet werde. Eine deutliche Verstärkung der weißrussischen Kräfte war mehreren Beobachtern aufgefallen.
Daneben sagte Lukaschenko laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta: »Es wird aktiv daran gearbeitet, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie bitte nach Hause zurückkehren sollen.« Bei diesem »Zuhause« müsste es sich im Regelfall um ein nahöstliches Herkunftsland handeln. »Aber niemand will zurückgehen«, heißt es dann als wörtliches Zitat schon bei AFP.
Und laut Pressemeldungen sagte er auch: »Ja, wir werden die Flüchtlinge mit unseren eigenen Flugzeugen rausholen und notfalls nach München schicken. Wir können nicht mehr zusehen, wie die Menschen ohne Perspektive und in Unsicherheit an der EU-Grenze zurückgelassen werden.«
Was hat all das zu bedeuten? Es erscheint zunächst wie reine Taktik, die das gegnerische Lager verwirren soll. Lukaschenko will dem Westen sagen: Ja, ich würde die Migranten ja zurück in ihre Heimatländer fliegen – wenn sie nur wollten!
Die Lage an der Grenze vermittelt ein anderes Bild. So berichtet der polnische Grenzschutz von einer erheblichen Zusammenrottung von Migranten am Grenzzaun. Dies sei bereits ein »Versuch, die Grenze zu durchbrechen, alles unter der Aufsicht der weißrussischen Kräfte«. Die Situation wirkt äußerst angespannt – und zwar egal, von welcher Seite man sie aufnimmt. Auch weißrussische Medien sind angereist, um das Geschehen zu veröffentlichen, das anscheinend jeden Moment beginnen kann.
In einem anderen Tweet berichten die polnischen Grenzschützer von über 5.000 Versuchen, die Grenze zu durchbrechen allein im November. Auch Chatverläufe zeigen – soweit sie echt sind –, dass die weißrussischen Polizisten im Grenzgebiet noch keineswegs zur Rückreise auffordern. Berichtet wird von Familien, die die Grenzregion nicht verlassen können, weil sie sich »in den Händen« der Polizei befinden.
Zudem waren die Straßen von Minsk noch am Wochenende voller Neuankömmlinge, die die Grenzregion noch nicht einmal betreten haben. Auch aus dem grenznahen Brest wird von vollen Hotels berichtet. Werden auch sie von den weißrussischen Kräften dorthin gebracht werden? Oder reisen sie freiwillig ab? Oder suchen sie sich andere Wege nach Westeuropa?
Noch nicht alle Flüge nach Minsk ausgesetzt
Die einschlägig als Fluchtexpertin bekannte WDR-Journalistin Isabel Schayani gab die AFP-Meldung wieder und berichtet von fünf Maschinen aus Istanbul und einer aus Damaskus, die heute auf dem Flughafen von Minsk stünden.
Was daran so außergewöhnlich sein soll, weiß keiner. Denn noch immer kommen täglich Flüge aus Antalya, Scharm El-Scheich, Istanbul, Aqaba (Jordanien) und Damaskus in Minsk an. Außerdem kann man aus der libanesischen Hauptstadt Beirut nach Moskau fliegen und von dort einen von elf Flügen nach Minsk nehmen. Die EU-Sanktionen und -Verhandlungen scheinen noch nicht ganz zu greifen, auch wenn Iraker, Syrer und Jemeniten in der Türkei nach den neuen Regeln der dortigen Luftfahrtbehörde keine Flugzeuge nach Weißrussland mehr besteigen dürfen. Was ist aber mit den Iranern, Afghanen, Ägyptern oder auch den türkischen Staatsbürgern? Sie alle können noch immer unbeschränkt in die Krisenregion reisen, theoretisch auch über die Kaukasus-Flughäfen Tbilisi oder Eriwan.
Beginnt ein Umdenken in der EU?
Derweil will der geschäftsführende Außenminister Heiko Maas die Sanktionen gegen Weißrussland keineswegs aufheben, im Gegenteil. »Wir werden die Sanktionen weiter verschärfen«, sagte er am Rande eines EU-Außenministertreffens in Brüssel. Neu an den neuen Sanktionen: Sie sollen angeblich die Schleuser von Migranten in Richtung EU-Außengrenzen treffen. Die EU scheint einen neuen Gegner erkannt zu haben. In der supranationalen Organisation könnte genau in diesen Tagen ein Umdenken beginnen, das sich unter anderem in der zunehmenden »Isolation« des Luxemburger Außenminister Jean Asselborn zeigt, die er selbst zugibt.
Doch eine Tatsache bleibt bestehen: Ohne die Sicherung und den wirksamen Schutz der Außengrenzen werden alle diese Sanktionen wirkungslos sein. Daneben sollte man überlegen, ob nicht doch der weißrussische Präsident auf eine Art Recht hat, wenn er sagt, er lasse die Migranten ja nur durch. Die EU ist insofern auch selbst schuld an ihrer Not.
Indessen hat der Parteichef der polnischen Regierungspartei Recht und Ordnung (PiS), Jaroslaw Kaczynski, für den 3. und 4. Dezember zu Gesprächen über die »Verteidigung der europäischen Grenzen« nach Warschau eingeladen. Unter den Geladenen ist der ungarische Premierminister Viktor Orbán und der Chef der italienischen Lega Matteo Salvini. Kurz vor diesem Treffen wird der Ausnahmezustand in der polnischen Grenzregion ablaufen. Er kann dann aus formalen Gründen nicht mehr verlängert werden. Allerdings kündigte Innenminister Mariusz Kamiński bereits ein maßgeschneidertes Grenzschutzgesetz an, welches »de facto das verlängert, was es heute gibt«.
Seit Freitag sind zehn Bauspezialisten der Royal Engineers der britischen Armee an der Grenze, um »angesichts der anhaltenden Situation an der Grenze« die Möglichkeiten der technischen Unterstützung auszuloten.
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