Es war eine Konferenz für staats- und europarechtliche Feinschmecker, die der Deutsche Anwaltverein in coronabedingtem Video-Format am Wochenende veranstaltet hatte: „Die Ultra Vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts nach PSPP – Gefahr oder Chance für Europa?“ Ganze 116 Aufrufe bei YouTube.
Wer aber zwei Stunden und vier Minuten Juristen-Fachgespräch durchhielt, erlebte dann eine kleine Offenbarung. Eine der Teilnehmerinnen, die frühere Justizministerin und jetzige Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Katharina Barley (SPD), gab nämlich eine Information preis, über die bislang höchstens spekuliert worden ist.
Es ging um das aufsehenerregende Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Mai diesen Jahres, in dem der zweite Senat dem Europäischen Gerichtshof die Gefolgschaft aufkündigte („schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, „methodisch nicht mehr vertretbar“, „objektiv willkürlich“) und die Bundesregierung und den Bundestag ersucht, die Europäische Zentralbank (EZB) dazu zu bringen, die Praxis des Aufkaufs von Staatsanleihen (public sector purchase programme, PSPP) zu hinterfragen, da dies unerlaubte Wirtschaftspolitik bedeute. Dass Bundesregierung und Bundestag dieser Vorgabe tatsächlich nachkommen, ist kaum vorstellbar. Und das ist für Politiker der deutschen Regierungsparteien eben das eigentliche Dilemma: Das Urteil aus Karlsruhe verpflichtet sie letztlich ihre eigenen Versäumnisse im Sinne der deutschen Steuerzahler nachzuholen.
Aber einfach so stehenlassen kann man dieses Urteil, das letztlich sowohl die EZB als auch die bundesdeutsche Exekutive und Legislative beschämen muss, eben nicht. Und so sieht das offenbar auch Barley, die schon mehrfach gezeigt hatte, dass sie „verärgert“ über das Urteil ist:
„… jetzt haben wir den Salat. Wie kommt man jetzt raus? Ich bin der festen Überzeugung, es wird nicht ohne ein Vertragsverletzungsverfahren gehen, weil dafür der Einschlag zu groß war. Und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen weil es das Bundesverfassungsgericht war, dieser Primus inter pares. Und zum zweiten auch wegen des Zeitpunktes, weil wir uns gerade jetzt in einer so heiklen Situation befinden, was die gesamteuropäische Lage der Rechtsstaatlichkeit betrifft. Die Kommission wird das nicht hinnehmen, zumal unter einer deutschen Ratspräsidentin. Der Vorwurf, der dann laut werden würde, wenn man jetzt einfach abwartet und sieht, es kommen andere Verfassungsgerichte und schließen sich an, zu sagen: Beim deutschen habt ihr’s nicht gemacht, aber dann beim polnischen… Das ist ja auch dieses Narrativ, das sie pflegen: Westliche Staaten können machen, was sie wollen, aber sobald die osteuropäischen was machen, dann gibt es Reaktionen durch die EU. Also das alles wird man nicht hinnehmen können.“
Und dann sagt sie erstaunliche Worte: „Nach meinen Informationen liegen auch die entsprechenden Vorbereitungen schon ziemlich fertig in der Schublade. Ich glaube, das wird nicht mehr allzu lange dauern.“
Dass sie ein solches Verfahren gegen ihr eigenes Land erwäge, hatte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen schon bald nach dem Urteil im Mai in einem Brief an den Grünen-Politiker Sven Giegold geschrieben, der sie dazu aufgefordert hatte, solch ein Verfahren zu eröffnen. Dass Deutschland und seine Bürger eigene Interessen innerhalb der EU und der Währungsunion haben, scheint für diese drei deutschen Europapolitiker grundsätzlich illegitim zu sein.