Als sie am Wochenende die Einladung der FAZ zu dem Format „Fragen Sie die Kandidaten“ studierten, mussten viele Leser den Eindruck gewinnen, dass gerade ein klammheimlicher Tausch stattgefunden hatte. „Vier Interviews mit den Spitzenkandidaten der Parteien exklusiv für Abonnenten“, wirbt das Blatt gut sieben Wochen vor der Bundestagswahl. Leser, so das besondere Angebot, könnten ihre Fragen einreichen, die ein FAZ-Redakteur dann stellt. Als Spitzenkandidaten abgebildet waren in der Anzeige Armin Laschet für die Union, Christian Lindner für die Freidemokraten, Olaf Scholz für die SPD – und Robert Habeck für die Grünen.
Der FAZ-Chefredaktion musste klar gewesen sein, dass ihre Ankündigung irritierend wirkt. Haben die Grünen hinter den Kulissen ihren Spitzenbewerber ausgetauscht? Das Frankfurter Blatt teilte mit, die Partei habe „kurzfristig“ Habeck für das Gesprächsformat angemeldet. Schon längerfristig – spätestens seit Anfang Juli – stand auch fest, dass Habeck Interviewpartner für das ZDF-Sommerinterview sein würde – und nicht Kanzlerkandidatin Baerbock. Auch in den wichtigen Talkshowformaten trat der Co-Vorsitzende statt Baerbock auf: Am 14. Juli bei Markus Lanz, am 4. August bei Sandra Maischberger.
Für eine Kanzlerkandidatin ist Baerbock nicht nur im Fernsehen und in Interviews erstaunlich wenig präsent. Auch ihre Twitter-Aktivitäten gleichen die Abwesenheit anderswo kaum aus. Für eine Politikerin, die tatsächlich ins Kanzleramt einziehen will, wirkt die Frequenz auch hier spärlich – von inhaltlichen Fehlern einmal ganz abgesehen.
„Das Pariser Klimabkommen ist ein internationaler Vertrag, keine freiwillige Absichtserklärung“, twitterte sie kürzlich.
In Wirklichkeit ist die Paris-Erklärung beides, zu einer konkreten CO2-Reduzierung verpflichtet sie weder Deutschland noch einen anderen Staat.
Alles in allem erscheint Baerbock mittlerweile als deutliche Nummer zwei hinter Habeck. Zum Auftakt der grünen Wahlkampfauftritts-Tour in Hildesheim am Montag sprach zuerst der grüne Co-Vorsitzende – dann sie. Auf dem Programm des Duos stehen insgesamt 93 Kundgebungen in den kommenden sieben Wochen. Nur fünfmal ist eine gemeinsame Kundgebung geplant. Zu den anderen 88 Terminen bespielen Baerbock und Habeck jeweils solo die Bühne. Da er im Gegensatz zu Baerbock über rhetorische Fähigkeiten verfügt, und sich neben seinen Live-Aufritten auch in den Medien zeigt, verfestigt sich in den letzten Wahlkampfwochen ganz von selbst der Eindruck, dass in Wirklichkeit er die Kampagne der Partei führt.
Bisher waren Beobachter davon ausgegangen, dass die Grünen ihre immerhin auf dem Parteitag mit 98 Prozent bestätigte Kandidatin entweder trotz ihrer beeindruckenden Fehlerserie behalten – oder sie in der heißen Phase offiziell gegen Habeck austauschen, was bei den Grünen allerdings ein veritables Beben auslösen würde. Jetzt scheint die Partei einen dritten Weg gefunden zu haben: Baerbock behält formal den Titel „Kanzlerkandidatin“. Faktisch begibt sie sich in den Windschatten von Robert Habeck.
Je weniger sie in Erscheinung tritt, desto schwächer, so hoffen die Wahlkampfstrategen offenbar, fällt der Baerbock-Effekt aus. Der besteht darin, dass von ihren Bühnenshows und Interviews nur die Patzer in Erinnerung bleiben, die dann oft tagelang die eigentliche Botschaft überlagern. Nach ihrer Ansprache kurz nach ihrer Nominierung etwa kommentierte sie ihre eigene Rede, bei der sie sich verhaspelte, anschließend mit „Scheiße“, wobei sie nicht merkte, dass ihr Mikrofon noch eingeschaltet war. Von ihrem Bühnenauftritt bei „Brigitte“ blieb nur ihre bizarre Verteidigung gegen Buch-Plagiatsvorwürfe im öffentlichen Gedächtnis: „Ich habe kein Sachbuch geschrieben oder so.“ Nach ihrem darauffolgenden Interview spottete die Nation über ihren Satz: „Niemand schreibt ein Buch allein.“ Kurz vorher hatte ihr Verlag versichert, sie habe ihr Buch „jetzt“ allein geschrieben. Von der Vorstellung des „Klima-Sofortprogramms“ blieb vor allem der anschließende Auftritt mit Habeck im Naturschutzgebiet Biesenthal hängen, bei dem sie meinte, sich im 50 Kilometer östlich gelegenen Oderbruch zu befinden.
Bisher schafften es die Grünen nicht, der Dauerdebatte um die Patzer und Peinlichkeiten ihrer Spitzenkandidatin zu entkommen. Das schlägt sich auch in den Umfrageergebnissen nieder. Nach einem kurzen Zwischenhoch in den Hochwasser-Wochen fiel die Partei in der Insa-Erhebung vom 9. August wieder auf 17,5 Prozent zurück, und liegt damit gleichauf mit der SPD.
Da gleichzeitig auch die Union absackt, reicht es derzeit nicht mehr für eine schwarz-grüne Koalition.
Um zu retten, was noch zu retten ist, versucht das grüne Wahlkampf-Team nun offenbar das eigentlich Unmögliche: Es lässt die eigene Kanzlerkandidatin zumindest so weit verschwinden, wie es bei einer Spitzenpolitikerin überhaupt möglich ist. Der Zaubertrick könnte sogar gelingen.
Ein Reporter der NDR-Satiresendung „extra 3“ passte vor wenigen Tagen Robert Habeck bei einem Wahlkampfauftritt ab, und bat ihn, den Satz zu ergänzen: „Robert Habeck ist gut, aber Annalena Baerbock ist …?
Habeck grinste breit, und sagte: „Kanzlerkandidatin.“