Zweihundertdreiundsechzig Tage, knapp 9 Monate, sind keine lange Zeit, für Martin Schulz aber eine Ewigkeit. Am 19. März wurde er auf einem SPD-Parteitag zum Parteivorsitzenden gewählt und als Kanzlerkandidat ausgerufen. Nein, er wurde eigentlich gekrönt und gesalbt; der Wahlsieg am 24. September schien nur noch eine Formsache. Jetzt aber, am 7. Dezember, steht ein gescheiterter Kanzlerkandidat vor der Partei.
Stille nach der Jubelfeier
Als Schulz in die Halle kommt, nimmt niemand Kenntnis, rührt sich keine Hand. Er setzt sich auf dem Podium auf seinen Platz. Als Schulz dann um 11:52 Uhr zu seiner mit Spannung erwarteten Rede ans Pult tritt, könnte der Empfang nicht kühler sein. Kurz darauf wirft er sich vor den Delegierten in den Staub, bittet „für meinen Anteil an unserer Niederlage um Entschuldigung“, doch das Auditorium nimmt das mehr oder weniger stumm zur Kenntnis. Die Partei behandelt Schulz wie einen Insolvenzverwalter: man hofft auf seinen Erfolg, aber man liebt ihn nicht.
Schulz hat einen Retro-Wahlkampf hinter sich; er hält auch zum Auftakt des Parteitags in weiten Teilen eine Retro-Rede. Er beschwört die glorreiche Vergangenheit der Partei, den erfolgreichen Kampf für den Acht-Stunden-Tag oder das Frauen-Wahlrecht, erinnert an das visionäre europapolitische Heidelberger Programm von 1925. Ihre Leistungen von vor hundert Jahren finden die Sozialdemokraten richtig gut, die aus der jüngeren Vergangenheit offenbar weniger.
Retro ist ein Nischenmarkt
Schulz wirbt für den Leitantrag, der beides offen hält: Tolerierung einer Minderheitsregierung wie Beteiligung an einer neuen Großen Koalition. Zur Möglichkeit von Neuwahlen, vor drei Wochen noch „Beschlusslage“ der SPD-Spitze, äußert er sich nicht konkret. „Nicht um jeden Preis regieren“ und „nicht um jeden Preis nicht regieren wollen“ – wer wie Schulz in den letzten Wochen schon jede denkbare Position eingenommen hat, der kann gar nicht konkreter werden.
Um wiedergewählt zu werden – und zwar mit mehr als 70 Prozent – und um freie Hand für Sondierungen mit der CDU/CSU zu bekommen, streichelt Schulz vor allem die Seele der Partei-Linken: Ehe für alle, keine Begrenzung bei der Zuwanderung, mehr Umweltschutz, Kampf gegen die Kapitalisten, mehr Staat beim Wohnungsbau, mehr Gerechtigkeit. Wenigstens da kommt Stimmung auf. Ebenso bei dem glaubwürdigen Eintreten des überzeugten Europäers Schulz für die Umwandlung der EU in „Vereinigten Staaten von Europa“, die er natürlich als „sozialdemokratisches Europa“ sieht.
Es geht um das Überleben. Das von Schulz
Schulz liefert alles in allem „alten Wein in alten Schläuchen“. Kein Wunder: Hier kämpft einer ums politische Überleben. Die Reaktion der Delegierten: Beifall, vereinzelte Bravorufe, standing ovations. Aber die Delegierten wirken eher so, als müssten sie begeistert sein, obwohl sie es definitiv nicht sind. Doch schon nach knapp vier Minuten stoppt Schulz die gekünstelte Euphorie selbst: „Wir brauchen Debattenzeit“. Als Schulz wieder Platz nimmt, liegen schon 80 Wortmeldungen vor.
Auf Schulz wartet viel Widerspruch. Zwischen dem 19. März und dem 6. Dezember liegen eben nicht nur 263 Tage. Dazwischen liegt auch die brutale Entzauberung des als Wundermann gepriesenen 100 Prozent-Schulz. Wenn es gut geht für Schulz, dann folgt ihm der Parteitag zweimal mit rund 70 Prozent bei den anstehenden Abstimmungen; bei seiner Wiederwahl und beim Ja zum „ergebnisoffenen“ Sondieren.