Wer hier leben muss, der ist zunächst vor allem eines: mit dem Leben gerade so davon gekommen. Dennoch gehört das Flüchtlingslager Al-Hol in Nordsyrien zu jenen Orten auf der Welt, welche der Menschheit einmal mehr verdeutlichen, dass ein friedliches Zusammenleben aller Menschen immer noch ein Traum ist. Man merkt es auch daran, dass alleine so einen Traum hier aufzuschreiben geradezu verkitscht wie weltfremd wirkt.
Schon während des Golfkriegs im Frühjahr 1991 wurde hier von der Flüchtlingshilfe der UN eine Schutzzone errichtet für zeitweilig mehr als zehntausend Menschen. In den letzten fast zwei Jahrzehnten beherbergte das Lager unterschiedlichste Flüchtlingsgruppen. Nach Vertreibung der islamistischen Terrororganisation IS wird das Flüchtlingslager Al-Hol aktuell von vielen Frauen und Kindern bewohnt, die irgendwie dem IS entkommen bzw. die aus vom IS befreiten Gebieten kommen. Ende März 2019 wurden über 70.000 Bewohnern gezählt, eine Zahl, die um ein vielfaches über der eigentlichen Kapazität liegt.
Das alles ist verstörend, wenn zudem regelmäßig von Gewalt im Lager berichtet wird ebenso, wie von krassen Fällen von Tuberkulose, Syphilis und Diphtherie. Aber eine noch einmal weitaus gefährlichere Verstörung hat Reporter Daniel Hechter vor Ort für den SWR recherchiert, als er im Lager mit den Bewohnern sprach, mit Frauen und Kindern, und hier auf eine Grundhaltung traf, die für sich verstörend ist, die aber insbesondere für jene europäischen Kräfte verstörend wirken muss, die eine Rückführung dieser ehemaligen IS-Angehörigen bzw. vom IS verschleppten Menschen nach Europa diskutieren, ob nun via Asylantrag oder als „ehemalige“ Staatsangehörige eines der EU-Länder.
Hechter traf auf Frauen und Kinder, die nicht nur das Grauen, die Morde und das Terrorregime überlebt hatten, sondern die über die Jahre unter dem IS so weit indoktriniert wurden, dass sie sich jetzt tatsächlich nach einem Leben in diesem Horror zurücksehnen. Die Aussagen der Kinder gegenüber dem Korrespondenten des SWR machen sprachlos: „Wir wollen zurück zum ‚Islamischen Staat'“, „Da war es besser als hier“, „Am besten war, dass ich dort zur Schule gehen konnte und dass wir den Dschihad hatten.“
„Folter und Hinrichtungen haben sie selbst gesehen, erzählen sie und finden das auch in Ordnung: „Wenn sie ungläubig waren oder gegen die Religion verstoßen haben, sollten unsere Brüder im ‚Islamischen Staat‘ sie auch töten“, sagt Abdul ohne jedes Mitgefühl.“
Im Lager sind alleine in diesem Jahr bereits mehr als 300 Kinder an Mangelernährung und Infektionen gestorben. Solche Zustände werden es sein, die wohl für die Menschen den einen mit dem anderen Horror aufrechnen. Hinzu kommt eine unausrottbare tief verwurzelte religiös-ideologische Haltung, die von den Müttern auf die Kinder übergehen, wenn die Mütter Hechter zu Protokoll geben:
„“Wir hoffen, dass IS zurückkommt. Wir glauben, dass sie auf dem richtigen Weg sind“, sagt eine vollverschleierte Frau. „Ich gehöre dem IS an. Dafür habe ich mich entschieden. Und das ist meine Überzeugung. Ist das falsch?“, fragt eine andere.“
Im Lager gibt es auch einen von den zuständigen Kurden bewachten Trakt für die unverbesserlichsten IS-Anhänger(innen). Es ist so erschütternd wie nötig, diese Zahlen einmal ohne Scheu zu nennen, die Lawand Yousef Ali, der Polizeichef des Camps dem Reporter aus Deutschland mitteilt: „95 Prozent der Bewohner dieses Trakts sind immer noch glühende Anhänger des IS. (…) Wir wissen nicht, wann alles in die Luft fliegt. Wir tun unsere Pflicht, aber wir wissen nie, wann die Situation außer Kontrolle gerät.“
Und wieder sind es die Kurden, die mit den größten und akutesten Problem dieser von allen guten Geistern verlassenen Region alleine bleiben, wenn der IS nicht um seine Ideologie bangen muss, wenn solche und weitere Lager die Brutstätten der kommenden Generation fanatischer IS-Kämpfer sind: „Kinder werden auf den IS eingeschworen, statt zur Schule zu gehen. Irgendwann einmal sollen sie in den „Heiligen Krieg“ ziehen.“
Der Krieg ist nicht vorbei, aber er wird noch länger dauern, wenn die Staatengemeinschaft sich nicht energischer einbringt und diese Lager endlich zu friedlichen und grundversorgten Schutzzonen macht, notfalls mit allem dafür nötigen wie ideologiefreien Kontroll- und Wachpersonal.