Tichys Einblick
TE-Anfrage ans Bundesinnenministerium

Rund 59.000 Asylanträge im ersten Halbjahr – Einreisewege sind „Verschlusssache“

Die Bundesregierung macht aus den Einreisewegen von Asylbewerbern ein Staatsgeheimnis und tut laut Antwort auf eine TE-Anfrage nichts gegen die Spitzenreiterposition als Asyl-Antragsland. Obwohl es laut Dublin-Verordnung eigentlich kaum Antragsteller im EU-Binnenland Deutschland geben dürfte.

IMAGO/IPON

58.927 Erstanträge auf Asyl stellten Migranten in der Bundesrepublik Deutschland allein im ersten Halbjahr 2021. Diese Zahl bestätigte das Bundesministerium des Innern gegenüber TE auf Anfrage. Laut einem Bericht der EU-Asylbehörde, aus dem die Welt am Sonntag zitierte, sollen es allerdings nur 47.231 „Geflüchtete“ sein, die in Deutschland Asyl beantragten. Da waren vermutlich noch nicht alle Meldungen aus dem BMI bei den Bürokratoren in Brüssel angekommen.

Doch allein schon jene 47.231 stellen innerhalb der EU den Löwenanteil. In der EU-Statistik folgen nach dem aufnahmebereiten Deutschland Frankreich mit 32.212, Spanien mit 25.823 und Italien mit 20.620 Antragstellern. Am anderen Ende der Liste stehen bislang Lettland mit 58, Estland mit 30 und Ungarn mit 19 Anträgen.

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Gleichwohl: Diese Zahlen irritieren. Laden die NGO-Einwanderungshelfer im Mittelmeer nicht ihre menschliche Fracht überwiegend in Spanien, Italien und Griechenland ab? Und: Wie kann es sein, dass in einemLand, das außer den See- und Luftwegen nur EU-Binnengrenzen und Grenzen zu Schengen-Staaten hat, die, wie die Schweiz selbst vollständig von EU-Staaten umgeben sind, derart viele Erstanträge auf Asyl gestellt werden? Laut Dublin-Verordnung der EU müssen Begehren auf Asyl in jenem EU-Land gestellt werden, in dem der Antragsteller zuerst EU-Boden betritt.

Das lässt nach menschlicher Logik nur eine Konsequenz zu: Die 58.927 Antragsteller (weitere 22.357 Asylanträge wurden als „Folgeanträge“ bereits im Lande verweilender Personen gestellt) müssen entweder auf dem Seeweg via Nord- und Ostsee gekommen sein – oder sie nutzen internationale Fluglinien.

TE wollte deshalb wissen: Wo kommen sie her, diese eigentlich doch überhaupt nicht hier anlanden Könnenden? Und wie kommen sie her? Also fragten wir das Bundesministerium. Doch die in ungewöhnlich freundlichem Ton gehaltene Antwort liefert leider auch nur kryptische Aufklärung.

Einreisewege sind Verschlusssache

Vorab: Der konkrete Einreiseweg ist „Verschlusssache“. Zwar ist mit normalem Menschenverstand nicht nachvollziehbar, warum es die konkreten Einwanderungsrouten vor dem Souverän (laut Grundgesetz immer noch der Bürger) geheim zu halten gilt – doch wenn das BMI meint, daraus ein Geheimnis machen zu müssen, das seinen Auftraggeber nichts angeht, kann die Redaktion daran leider nichts ändern. Wir werden also weiter spekulieren müssen: Wachsen den Asylbewerbern Flügel, dass sie über die EU-Außengrenzen bis in die BRD fliegen? Können Sie übers Wasser laufen, also von Russland oder Großbritannien Ost- oder Nordsee überqueren? Wir wissen es nicht und bedauern, dass diese offenbar vorhandenen Fähigkeiten den Bürgern vorenthalten bleiben müssen.

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Vielleicht aber trägt ein anderer Hinweis der BMI-Sprecherin zur Aufklärung bei.  „Im Zusammenhang mit Minderjährigen und Familienangehörigen sowie der Ausstellung von Aufenthaltstiteln und Visa sind gem. Art. 7 Abs. 1 in Kapitel III der Dublin-III-VO sind die dort genannten Kriterien (beispielsweise der Aufenthaltsort eines Familienmitglieds bei unbegleiteten Minderjährigen) zwingend vor dem Kriterium der Einreise zu berücksichtigen“, erklärt Alina Vick aus der Pressestelle.

Das soll offenbar bedeuten, dass die Dublin-Regeln keine Rolle mehr spielen, wenn sich beispielsweise das Familienmitglied eines bereits Eingereisten ein Visum erschleicht oder Kinder auf Verwandtenbesuch nach Deutschland geschickt werden. Darf man das Missbrauch des Gastrechts nennen, wenn jemand so tut, als wolle er nur als Tourist nach Deutschland – und kaum hier im Lande fällt ihm ein, dass er in der Heimat, die ihn friedlich hat ausreisen lassen, politisch oder religiös verfolgt wird? Auch das wissen wir nicht – unmissverständlich klar ist nur: Die Dublin-Regeln sind in solchen Fällen offenbar völlig überflüssig.

Zu denken gibt auch eine weitere Mitteilung der Seehofer-Sprecherin: „Gem. Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird (Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-VO).“

„An der Grenze“? Damit kann Deutschland nicht gemeint sein. Schließlich hat es nur Grenzen zu anderen EU- und assoziierten Staaten. Dort kann also überhaupt keiner anzutreffen sein, der in der EU Asyl bekommen möchte und noch keinen Antrag gestellt hat.

Etwas anderes ist das mit jenen Transitzonen. Das sind jene Spezialräume in Flughäfen, in denen illegal Einfliegende erst einmal untergebracht werden. Ist der gelandet, werden wir ihn nicht wieder los. Denn egal, wie jemand den Flug in die Bundesrepublik ergattert hat: Betritt er den Boden des Flughafengeländes und sei seine Einreise noch so illegal – er muss nur laut „Asyl“ rufen, und schon darf er erst einmal bleiben. Es sei denn, er kommt aus einem anderen EU-Land. Für den Fall, dass ein Asylbegehrer beispielsweise aus Rom oder Valencia herbeigeflogen kommt, könne, so Vick, dieser „andere Mitgliedstaat für zuständig erachtet“ werden, sodass dann „dieser um Übernahme der Person im Rahmen des Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahrens aufgefordert“ wird. Was geschieht, wenn dieser als zuständig erachtete Staat der Aufforderung nicht folgt, verrät Vick nicht. Hatten wir aber auch nicht gefragt und müssen wir auch nicht fragen, denn solche Fälle kann es laut Dublin Verordnung schließlich nicht geben.

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Wissen wollte TE allerdings noch, ob für den Fall, dass beispielsweise viele dieser Asylbewerber aus Schengen-assoziierten Nicht-EU-Staaten einreisen sollten, darüber nachgedacht wird, das Schengen-Abkommen wegen eines solchen, möglichen Missbrauchs in Gänze oder teilweise zu kündigen und, für den Fall, dass ein solches Vorgehen nicht vorgesehen sei, welche anderen Möglichkeiten vorgesehen seien, um den vereinbarten Zustand wiederherzustellen. Da war nun die Antwort ganz kurz und knapp: Ein klares „Nein“. Wobei damit allerdings noch nicht klar ist – gilt das Nein für die Kündigung oder für andere Maßnahmen?

Vermutlich für beides. Und das wiederum müssen wir dann vermutlich so interpretieren, dass das Bundesministerium des Innern überhaupt nichts unternimmt, um die Spitzenreiterposition als Asyl-Antragsland bei einer laut Dublin-Verordnung eigentlich überhaupt nicht möglichen Einreise von Bewerbern in das EU-Binnenland Deutschland zu verlassen.

Das entspricht allerdings dem generellen Eindruck, den wir von Horst Seehofer haben, und es erklärt der Frau Bundeskanzler hoffnungsfrohes „Wir schaffen das!“ – denn wenn die Bundesregierung einfach alle schaffen lässt, die gern Asyl in der BRD hätten, und sie selbst es nicht schaffen will, dieses zu verhindern, dann ist das auch eine Form des Schaffens. Wenn auch vielleicht eine, die dem Bürger nicht unmittelbar in den Sinn kommt, wenn ihm derart Beruhigendes erzählt wird.

Aber egal – dafür ist Seehofers Sprecherin nicht verantwortlich, und so bedanken wir uns für die schnelle und in freundlichem Ton gehaltene Antwort. Schließlich dürfte das Haus gegenwärtig unter Hochdruck arbeiten, gilt es doch neben dem EU-Asylbericht vor allem das Versagen beim Katastrophenschutz zu erklären. Da ist es schon anerkennenswert, sich sogar innerhalb der erbetenen Frist mit den TE-Bitten zu Asylrecht-Ungereimtheiten zu befassen.

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