Tichys Einblick
EU-Asylzahlen zur Jahresmitte

Asyl-Halbzeit 2024: Deutschland bleibt Zielland Nummer 1 – andere Länder holen auf

Asylanträge gehen zurück – aber sie liegen höher als von 2017 bis 2022. Deutschland bleibt häufigstes Zielland, aber auch die Südländer haben hohe Zahlen. An der Grenze im Osten klappen Zurückweisungen der Bundespolizei nicht immer. Es hakt an der Zusammenarbeit mit Polen.

picture alliance/dpa | Jessica Lichetzki

Die Migrationslage in der EU entspannt sich keineswegs. Belgien hat letztes Jahr die Unterbringung allein reisender Männer eingestellt. Irland klagt über hohe Zuwanderung via Großbritannien, Bremen über kriminelle Maghrebiner, die aus Frankreich und Belgien einreisen. Zypern erlebte seine Krise der „kleinen Boote“ (aus dem Libanon), auf den Kanaren setzt sich die illegale Einwanderung aus Westafrika ungebremst fort. Und irgendwie schaffen es noch immer Zehntausende Syrer und Afghanen bis nach Deutschland. Laut dem dänischen Ausländerminister Kaare Dybvad Bek liegt die Zahl der illegalen Einreisen in die EU derzeit höher als 2015. In einem Brief aus dem Juni zeigte sich Ursula von der Leyen interessiert an Offshore-Lösungen.

Zwei Nachrichten schienen in den letzten Tagen in grundverschiedene Richtungen zu weisen und taten es doch nicht. Die Tagesschau vermeldete, dass die in Deutschland gestellten Asylanträge in diesem ersten Halbjahr 2024 deutlich zurückgegangen seien. Man nimmt hier mit den „vertraulichen“ Zahlen von der EU-Asylagentur (EUAA) vorlieb, die von 115.682 Asylanträgen spricht. Tatsächlich waren es aber gemäß Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 132.201 Asylanträge in sechs Monaten, davon 121.416 Erstanträge. Die EU-Zahlen, die auch die Welt am Sonntag zitiert, sind also nicht so sehr „vertraulich“, sondern in Bezug auf Deutschland unvollständig.

Die andere Nachricht steht gar nicht so sehr im Widerspruch zur ersten: Deutschland bleibt weiterhin „Spitzenreiter in der EU“, was die Zahl der Asylanträge angeht. Durchschnittlich 22.000 Anträge pro Monat wurden gestellt. Aufs Jahr hochgerechnet ergäbe das 264.000 Asylanträge, also immer noch mehr als in jedem Jahr von 2017 bis 2022. Da kann auch der leichte Rückgang (minus 17,5 Prozent) gegenüber dem Jahr 2023 kaum trösten. Deutschland steckt längst in einer neuen Migrationskrise beziehungsweise in der neuesten Verschärfung der seit 2015 altgewohnten, alljährlich sich wiederholenden Dauerkrise.

Schaut man sich die Kurven der letzten fünf Jahre an, dann sieht man, dass das aktuelle Jahr zwar unter 2023 liegt und bisher eine ähnliche Tendenz wie dieses zeigt (gebremster Abwärtstrend in der ersten Jahreshälfte), dass aber beide Jahrgänge klar über den Zahlen der früheren Jahre (hier 2020 bis 2022) liegen.

Insgesamt wurden im ersten Halbjahr – laut EUAA – 499.470 Asylanträge in der EU gestellt, was nur einem Rückgang von zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Das bedeutet, was Deutschland an Aufnahmen vermied, nahmen andere EU-Staaten hin. Deutschland bleibt aber Zielland Nummer ein, übrigens auch bei den Sekundärmigranten, die sich irgendwann aus Polen, Griechenland oder Spanien aufmachen, nach Deutschland weiterreisen und häufig wieder einen Asylantrag stellen. Alles das widerspricht dem EU-Recht, die Zuwanderer wurden häufig im Erstaufnahmeland registriert – wie jüngst eine fünfköpfige afghanische Familie aus Polen – oder besitzen gar einen Schutzstatus dort wie viele Afghanen aus Griechenland.

Die meisten Asylanträge in Deutschland im ersten Halbjahr 2024 stammen noch immer von den allgegenwärtigen Syrern (29 Prozent), Afghanen (18 Prozent) und neuerdings Türken (zehn Prozent). Die Hälfte aller Asylbewerber kamen damit aus Syrien und Afghanistan.

EU: Spanien und Griechenland unter Druck

Etwa gleich blieben die Asylzahlen in Spanien (plus ein Prozent). Dennoch bleibt Spanien mit 87.700 Anträgen auf einem eher hohen Niveau im EU-Vergleich, das waren 180 Anträge pro 100.000 Einwohner. Steigerungen der Asylanträge gab es derweil in Italien (plus 32 Prozent; 81.108 Schutzbegehren = 138 pro 100.000 Einwohner) und noch mehr in Griechenland (plus 77 Prozent; 29.776 = 284 pro 100.000 Einwohner). Das ist ein negativer Spitzenwert unter den hier ausgewerteten Zahlen. Auch politisch lässt sich sagen: Die Mitte-rechts-Regierung von Kyriakos Mitsotakis zehrt ihr Grenzschützer-Image allmählich auf. Mitsotakis zeigt sich inzwischen offen für eine gewisse Zahl an Asylanträgen, die später zu dauerhafter Residenz im Zielland und Bevölkerungsvermehrung führen sollen. Auch in Griechenland wurden hunderttausende Illegale legalisiert. Ob sie letztlich in dem Land bleiben werden, ist angesichts der Freizügigkeit im Schengenraum eine ganz andere Frage.

Im Vergleich dazu sank die Zahl der französischen Anträge (minus sechs Prozent; 77.474 = 113 pro 100.000 Einwohner). In Deutschland waren es übrigens 156 Asylanträge pro 100.000 Einwohner. Auch das ist nicht wenig.

Ungarn nahm insgesamt nur 13 Asylanträge in diesem Jahr entgegen, die Slowakei 79 und Malta immer noch sehr schlappe 234. Diese Zahlen zeigen, dass man die Flut der Anträge bremsen, ja stoppen könnte, wenn man es wollte. In Österreich und Bulgarien gingen die Asylanträge deutlich um 41 und 39 Prozent zurück. In Österreich müssten es ungefähr 14.000 Anträge im halben Jahr gewesen sein (Statistik zum Juni liegt noch nicht vor). Daraus ergibt sich eine ähnliche relative Antragszahl wie in Deutschland, nämlich 154 Anträge pro 100.000 Einwohner.

Bundespolizei: Kaum Zusammenarbeit mit polnischen Grenzern

Als aktuelle Krisenhotspots laut EUAA gelten: zum einen die Grenze zwischen Weißrussland und Polen, wo sich inzwischen „Migranten aus der Subsahara“ oder von anderswo bemerkbar machen, die per Touristen- oder Studentenvisum nach Russland gereist seien. Von dort geht es dann illegal nach Weißrussland und dann über die Grenze nach Polen. 90 Prozent der Fälle sollen in dieser Weise über Russland gereist sein. Die Gesamtzahlen dieser Ostroute sind gleichwohl noch recht klein und tragen kaum etwas zum Asylaufkommen in der EU bei. Frontex berichtet von unter 1.000 illegalen Einreisen monatlich von Januar bis Mai. Eher ist von einem weiteren Arm der Balkanroute zu sprechen, der sich über Polen an die deutsche Grenze ansaugt. Aber die Einstufung als „hybrider Angriff“ ist es, die den Einreisen über Weißrussland eine gewisse Prominenz gibt.

Unhaltbare Wahlversprechen
Die große Show: Sachsens CDU-Regierung will Grenzen selbst sichern. Sagt sie.
Von der Grenze im Osten hört man von einer erneuten Belebung in diesem Jahr. Dagegen können auch die festen oder mobilen Grenzkontrollen kaum etwas ausrichten. Denn nur wenige Grenzübergänge werden so überhaupt überwacht. Die grüne Grenze und alle kleineren Autostraßen bleiben frei befahrbar. Hier fehlt auch Technik, etwa Wärmebildkameras, wie TE aus Bundespolizeikreisen hört. Auch die Schlepper wissen das natürlich.

Außerdem ist die Zusammenarbeit mit der polnischen Grenzpolizei sehr zurückhaltend. Kontakt gibt es da kaum. Gemeinsame Streifen gibt es zwar, aber Ergebnisse sind nicht bekannt. Oft werden Migranten mehrfach an der deutschen Grenze aufgegriffen und müssen erneut zurückgeschoben werden. Aber so bleiben diese Zurückweisungen wirkungslos, wenn niemand auf der anderen Seite der Grenze ist, der sicherstellt, dass eine Zurückschiebung auch in Polen Konsequenzen hat. Anscheinend sind die beiden EU-Länder nicht daran interessiert, hier für eine Art integrierte Sicherheit zu sorgen, indem zurückgeschobene Migranten auch wirklich im Rückwärtsgang bleiben und letztlich nach außerhalb der EU abgeschoben werden.

In Irland hat der Ruanda-Plan seine Wirkung gezeigt

Die Krisen der EU-Asylagentur sind also nicht unbedingt die realen Krisen des EU-Grenzschutzes und Asylsystems. Auf den Kanaren gab es eine Vervierfachung der illegalen Einreisen gegenüber dem Vorjahr, im östlichen Mittelmeer (Bulgarien, Griechenland, Zypern) gab es hier eine Verdoppelung. Es geht dabei jeweils um Zehntausende illegale Einreisen.

Der zweite Krisenfall aus Sicht der EU ist die Republik Irland, die von einer starken Zuwanderung über Großbritannien berichtet, seit es dort Gerüchte über eine Ruanda-Lösung gab. Das ist nun schon wieder Schnee von gestern. Sir Keir Starmer hat das Flaggschiff-Projekt seines Vorgängers in Sachen Bekämpfung der illegalen Migration versenkt. Labour will die illegalen Einreisen angeblich auf anderem Wege – vor allem polizeilich – bekämpfen.

Zunächst hat man aber die Asylanträge nach illegalem Grenzübertritt wieder ermöglicht, die von den Konservativen de facto verboten worden waren. Also könnte sich vielleicht auch die irische Krise bald wieder lösen. In Irland gab es 10.596 Asylanträge in der ersten Jahreshälfte, was eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr darstellt. Immerhin, da zeigte der nun beendete Ruanda-Plan der Konservativen und ihre Selbstverpflichtung, illegale Einwanderer abzuschieben, noch Wirkung. Und was den Ursula-von-der-Leyen-Satz angeht, die Idee, „Asylanträge weiter von der EU-Außengrenze entfernt zu bearbeiten“, verdiene „sicherlich unsere Aufmerksamkeit“, liegt seine Verwirklichung sicher noch in weiter Ferne.

Anzeige
Die mobile Version verlassen