Auf der großen israelfeindliche Demo am 15. Mai am Hermannplatz in Berlin kommt es zu einem antisemitischen Übergriff, drei Freunde, von denen zwei eine Davidstern-Kette tragen, werden körperlich angegriffen und aufs übelste beleidigt. Ein Mann droht: „Ich spucke euch in die Fresse“ und: „Ihr seid nur hier, um zu provozieren.“ Eines der Opfer sagt hinterher: „Das Tragen eines Davidsterns als Provokation? Das ist zutiefst antisemitisch“. Später muss man sich vor der Polizei noch rechtfertigen, warum man auf so eine Demo mit Davidsern auftrat. Der Vorfall wird von der Polizei nicht gemeldet – öffentlich gemacht wurde er durch einen Artikel des Tagesspiegel. Eine anerkennenswerte journalistische Leistung. Doch der Tagesspiegel wäre nicht der Tagesspiegel, wenn er jeden Anflug von Vernunft nicht im nächsten Atemzug völlig vor die Wand fahren würde – und genau das ist geschehen.
Sein Kommentar jetzt, vom Mittwoch liest sich, als würde jemand den Versuch unternehmen, ein schulbuchreifes Paradebeispiel für Täter-Opfer-Umkehr zu liefern. Natürlich fügt Lehming hinzu: „Das Opfer bleibt immer Opfer, ist niemals auch nur mitschuld an den Taten der Täter“. Wenn das nächste Wort im Text allerdings „Aber“ ist, ist eigentlich alles gesagt. Wer andere Leute angreift, müsse zwar bestraft werden, „Das allerdings heißt nicht, dass jede Debatte über ein kluges situatives Verhalten überflüssig ist.“, schreibt er.
„Kluges situatives Verhalten“ – damit ist gemeint, dass die Opfer die Davidsternkette lieber gar nicht hätten tragen sollen. Der „common sense“ gebiet es nämlich, zwischen Erlaubten und „Gebotenem“ zu unterscheiden. Zum einen möchte man fragen: Warum eigentlich? Auf diesen Demos sind doch eigentlich nur Israelkritiker, gegen Juden haben die doch nichts (heißt es jedenfalls immer). Oder doch nicht? Sind Palästina-Demos No-Go-Areas für Juden?
Lehming fragt weiter: „Wer fühlt sich wodurch provoziert?“ Er vergleicht die Situation damit, mit einem Antifa-Shirt auf eine Reichsbürger-Demo zu gehen oder einen AfD-Stand in der Rigaer Straße aufzubauen. Wie der Tagesspiegel im Ursprungsartikel zum Vorfall allerdings selbst schreibt, waren die drei Personen nicht auf der Demo, um zu provozieren oder überhaupt politisch etwas kundzutun. „Die beiden Frauen sind auf dem Weg zu Freunden. Sie wurden zum Shabbat-Essen eingeladen. Adam treffen sie zufällig auf dem Hermannplatz. Lara und Louisa tragen jüdische Symbole wie einen Davidstern als Kette um den Hals.“ heißt es dort.
Was für eine unfassbare Verdrehung: Was hier nur mäßig verdeckt gefordert wird, ist, dass jüdische Symbole schrittweise aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden sollen: aus Rücksicht vor den Befindlichkeiten von Judenhassern. Das schimpft sich dann wohl Deeskalation – oder „common sense“? Anstatt sich die Farge zu stellen, wie weit es gekommen ist, dass es in Deutschland No-Go-Areas für Juden gibt, will man Juden darüber belehren, wie sie mit diesen No-Go-Areas umzugehen hätten.
Appeasement ist gar kein Wort – hier wurde eine Grenze überschritten. Will der Tagesspiegel das wirklich so stehen lassen?