Diese „Unstatistik“ des Monats – in der jüngst publizierte Zahlen und auch deren Interpretationen hinterfragt werden – befasst sich mit der Aussagefähigkeit der Sieben-Tage-Inzidenz. Die aktuelle Politik orientiert sich mit ihren Anti-Corona-Maßnahmen vor allem an dieser Sieben-Tage-Inzidenz, die die Entwicklung der Neuinfektionen abbildet. Maßnahmen wie Sperrstunden, Personengrenzen auf Veranstaltungen und Alkoholverbote hängen davon ab. Die Sieben-Tage-Inzidenz gibt die innerhalb der vergangenen sieben Tage registrierten Neuinfektionen je 100.000 Einwohner an. Hat beispielsweise eine Stadt mit 250.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen insgesamt 50 Neuinfektionen verzeichnet, so beträgt die Sieben-Tage-Inzidenz (50 x (100 000/250 000)) 20.
Eine hohe Sieben-Tage-Inzidenz zeigt an, dass sich viele Leute mit dem Virus infiziert haben. Manche schließen daraus, dass mit etwas Zeitverzögerung das Gesundheitssystem überfordert sein wird und nicht alle Patienten behandelt werden können, was zahlreiche Todesfälle zur Folge haben kann. Allein auf die Sieben-Tage-Inzidenz zu schauen, ermöglicht jedoch keinen Blick auf das Gesamtgeschehen. In dieser Unstatistik erklären wir, warum Neuinfektionen zu anderen Zahlen in Bezug gesetzt werden sollten und warum die Zahlen in der ersten Welle im März/April nicht mit jenen von heute vergleichbar sind.
Neuinfektionen ins Verhältnis zur Zahl der Tests setzen
Je mehr Tests durchgeführt werden, desto mehr positive Ergebnisse kann man erwarten. Daher sagen die Neuinfektionszahlen für sich genommen wenig über die Situation aus. Ein Beispiel: In der 18. Kalenderwoche (Ende April) gab es 8.321 Neuinfektionen, in der 36. Kalenderwoche (Anfang September) etwa genauso viele.
Die Situation ist jedoch nicht die gleiche, denn in der Septemberwoche wurden mehr als dreimal so viele Tests durchgeführt. Man kann die Situation besser beurteilen, wenn man die Anzahl der positiven Tests („Neuinfektionen“) durch die Anzahl der Tests teilt. Diese Positivtestrate betrug in der Aprilwoche 2,5 Prozent, in der Septemberwoche aber nur 0,8 Prozent. Wenn man nur auf die Neuinfektionen beziehungsweise die Sieben-Tage-Inzidenz blickt, könnte man meinen, man hätte es mit der gleichen Situation zu tun. Tatsächlich ist aber der Anteil der positiv getesteten Personen zwischen der 18. und der 36. Kalenderwoche deutlich zurückgegangen.
Erst seit Ende September hat sich dies wieder umgekehrt, als der Anteil der positiven Tests stetig stieg und in der 42. Kalenderwoche (Mitte Oktober) 3,6 Prozent erreichte. Man kann also die absolute Anzahl der Neuinfektionen und auch die Sieben-Tage-Inzidenz der ersten „Welle“ im März und April nicht mit der zweiten Welle vergleichen. Der Vergleich der Positivtestraten ist informativer.
Um die Veränderung des Anteils der positiven Tests selbst zu beurteilen, muss man zudem sehen, dass heute andere Personengruppen getestet werden als in der ersten Welle. Während im Frühjahr klare Symptome und Kontakt zu Infizierten Voraussetzungen für eine Testung waren, wurden im Sommer zunehmend Massentestungen gefährdeter Personengruppen, etwa medizinischem Personal und von Reiserückkehrern, durchgeführt.
Neuinfektionen im Verhältnis zur Zahl der Verstorbenen
Wenn man davon ausgeht, dass ausgeprägte Symptome mit einem schweren Krankheitsverlauf einhergehen, dass schwere Krankheitsverläufe bei älteren Menschen häufiger sind und dass umgekehrt Massentests eher an berufstätigen Personen im Alter von 18 bis 59 Jahren durchgeführt wurden, so ist leicht zu erklären, warum inzwischen deutlich mehr Fälle unter den jüngeren Altersgruppen gefunden werden. Das Infektionsgeschehen mag sich etwas in diese Jahrgänge verschoben haben, oder es scheint zu gelingen, ältere Menschen effektiver zu schützen. Dies erkennt man daran, dass die absolute Zahl positiv Getesteter unter den 60- bis über 80-Jährigen gesunken ist, während sie bei den Jüngeren steigt.
Zugleich wird aber wiederum deutlich, dass die heutige Teststrategie die Dunkelziffer im Vergleich zum Frühjahr sehr viel besser erfasst. Obgleich die Zahl der Neuinfektionen derzeit rapide ansteigt, ist das Verhältnis der Verstorbenen zu den zwei Wochen zuvor Infizierten deutlich gesunken. Unter den Erwachsenen bis 60 Jahren ist der Anteil der Verstorbenen an den zuvor positiv Getesteten um 90 Prozent zurückgegangen, unter den 60- bis 80-Jährigen um 80 Prozent und unter den noch Älteren um 50 Prozent. Zwei Studien aus den USA und Großbritannien berichten, dass der Anteil der Verstorbenen stark zurückgegangen ist, und zwar gleichmäßig für alle Altersgruppen. Das legt nahe, dass der Rückgang nicht allein mit der höheren Anzahl von jungen infizierten Menschen zu erklären ist. Vielmehr mag dieser zum Teil auf verbesserte Behandlungen zurückzuführen sein; schließlich haben wir gelernt, dass beispielsweise die vorschnelle Beatmung von Corona-Patienten in zahlreichen Fällen wohl zum Tod geführt haben dürfte.
Ein Wert von 50 Fällen je 100.000 Einwohner heute hat also eine gänzlich andere Bedeutung als vor einem halben Jahr. Hinsichtlich der zu erwartenden Intensivpatienten und Todesfälle dürfte ein Wert von 50 im Oktober maximal einem Wert von 15 bis 20 im April entsprechen; vermutlich einem noch geringeren. Der einzige Fall, in dem man rechtfertigen könnte, nur auf die Sieben-Tage-Inzidenz zu schauen, ist die Frage, ob die Gesundheitsämter die Zahl der Kontaktpersonen von Menschen mit positiven Tests noch nachverfolgen können. In allen anderen Fällen raten wir dringend, nicht allein die Veränderung der Sieben-Tage-Inzidenz gegenüber der „ersten Welle“ zu betrachten, sondern zugleich die Veränderung der Positivtest- und der Todesraten beziehungsweise den Anteil an Corona-Patienten in Intensivstationen zu berücksichtigen.
Walter Krämer, Studium der Mathematik und Wirtschaftswissenschaften, von 1988 bis 2017 Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund.