Bei Maybrit Illner wurde Annegret Kramp-Karrenbauer kürzlich gebeten, den Kern bürgerlicher bis konservativer Politik zu beschreiben, für die ihre Partei stehen soll. Sie nannte bemerkenswerterweise: Mindestlohn, Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, Verteidigungspolitik – ohne bei dem dritten Punkt genauer auszuführen, welche. Der Historiker Andreas Wirsching, ihr in der Sendung schräg gegenüber platziert, kommentierte: „Ein sozialdemokratisches Programm.“ Wobei er auch hätte anfügen können: bei den Grünen könnten diese Stichworte genau so gut stehen.
In der FAZ nahm die CDU-Chefin jetzt Anlauf, um in einem längeren Text unter der Überschrift „Brücken bauen in bewegten Zeiten“ darzulegen, was von ihr zu erwarten ist. Das Format – die Person an der Spitze der Regierungspartei erklärt sich programmatisch – besitzt in Deutschland historisches Gewicht. Die Regierungserklärung Willy Brandts 1969, um ein Beispiel zu bemühen, enthielt eben nicht nur den berühmten Satz „wir wollen mehr Demokratie wagen“, sondern eine ganze Reihe detaillierter Ankündigungen. In einem Fall, auch in der FAZ, verkündete die präsumtive CDU-Vorsitzende und damalige Generalsekretärin Angela Merkel 1999 den Bruch mit Helmut Kohl. Wenn Politiker, in deren Hand Richtungsentscheidungen liegen, sich mit einer programmatischen Erklärung an die Öffentlichkeit wagen, dann ist dieser Text per se ein wichtiges Dokument. Das trifft auch auf Kramp-Karrenbauers Aufsatz zu. Nur etwas anders, als sie es beabsichtigt haben dürfte.
„Die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und zuvor Bremen und die Europawahl liegen hinter uns; Thüringen wählt im Oktober, Hamburg im Februar. Die Koalition im Bund steht vor ihrer Halbzeitbilanz, und die SPD stellt ihre Führung in einem aufwendigen Verfahren neu auf. Bewegte Zeiten. Auch in Europa und weltweit stehen Umbrüche an, die unser Land betreffen.“
Termine liegen also hinter uns, andere Termine liegen vor uns. Dass die CDU in Sachsen und Brandenburg gerade ihr historisch schlechtestes Ergebnis holten, und vor allem, warum das so kam – dazu kein Wort. Die einzige explizit erwähnte Partei in ihrer Einleitung ist die SPD.
Wer nun hofft, nach der Formulierung „Umbrüche, die unser Land betreffen“, kämen zu diesem Stichwort noch genauere Ausführungen, der stolpert wie ein Mensch im dunklen Treppenhaus gleich die nächste Treppenstufe hinunter, die er an der Stelle gar nicht erwartet hatte. Denn jetzt ist die Vorsitzende schon bei ihrer Partei:
„Bewegte Zeiten sind es auch für die CDU. Wir haben den Prozess der Erneuerung im vergangenen Jahr begonnen. In manchem gleicht er einem Hürdenlauf. Manchmal nehmen wir die Hürden eleganter, mal holpert es, wie bei unseren Reaktionen auf einen Youtuber. Gleichwohl: Das Verhältnis der Schwesterparteien CDU und CSU ist heute wieder intakt und von Vertrauen geprägt. Zuhörtour, Werkstattgespräche und der Prozess für ein neues Grundsatzprogramm helfen uns bei der Positionierung.“
Ja, das Brückenbauen ist ein Hürdenmarathon, gerade in bewegten Zeiten. Rezos „Die Zerstörung der CDU“-Video war also eine Hürde, irgendwie gerissen von ihrem Generalsekretär, dem tagelang keine Antwort dazu einfiel, dann von Kramp-Karrenbauer selbst, die bekanntlich darüber sinnierte, die Äußerungsfreiheit im Internet einzuschränken, was sie dann aber nicht so gemeint haben wollte. „Gleichwohl“ – gleichwohl ist Kramp-Karrenbauers wichtigstes Stilmittel das non sequitur. Ohne logische Verbindung und ohne den einen eben angerissenen Halbgedanken zu Ende zu bringen, rumpelt sie zur nächsten Hohlformel. Gleichwohl, also irgendwie trotz Rezo, ist das Verhältnis zur CSU also in Ordnung. Und dass die Ausarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms bei der Positionierung einer Partei hilft – wer hätte das gedacht?
Da eben das Stichwort „Programm“ fiel: kommt jetzt endlich etwas Erhellendes zur Ausrichtung respektive Neuausrichtung der CDU? Etwas ungewollt Programmatisches folgt tatsächlich, nämlich das fast wortwörtliche Bekenntnis zu Allem und Jedem:
„Für mich heißt das: zuhören und verstehen, diskutieren und entscheiden, dann handeln – in dieser Reihenfolge und vor allem auch unter Einbeziehung des ganzen Landes, aller Regionen, aller Ebenen und Menschen innerhalb und außerhalb der Union. Unser Ziel ist Politik für alle in unserem Land, wir wollen jede Wählerin und jeden Wähler erreichen, ob traditionell und aktuell der Union zugewandt oder nicht.“
Erst entscheiden, dann handeln: gut, dass diese Reihenfolge von ihr noch einmal festgeklopft wurde.
Zuhören kann man freilich allen.
Aber halt: sie will andererseits „Linien ziehen, die wir nicht überschreiten: keine Zusammenarbeit mit Parteien, die ausgrenzen, spalten, mit ihrer Sprache und Haltung das gesellschaftliche Klima vergiften und Rassismus und Ressentiments schüren.“
Also keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD. Bei dieser Passage handelt es sich im Übrigen um die einzige konkrete Aussage im gesamten Text der CDU-Vorsitzenden. Allerdings schreibt sie nicht, wo genau sie die Grenze nach Rechts zieht.
Gerade erst hatte die bedauert, den ehemaligen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nicht so einfach aus der Partei werfen zu können. Dann wollte sie es wieder nicht so gemeint haben. Dann bekräftigte sie es wieder. Maaßen gehört zur Werte-Union, einer Vereinigung innerhalb der CDU. Rassismus hat niemand von Maaßen vernommen, und Ressentiments sind im Politikbetrieb nun wiederum stärker verbreitet, als Wohlmeinende annehmen. Möglicherweise hat sogar Kramp-Karrenbauer welche. Also: wo verläuft für sie die Linie? Gehören Auffassungen, wie sie die Werte-Union vertritt, für sie dazu? In einem Grundsatztext der Chefin zur CDU hätte man dazu gern wenigstens einen Satz gelesen, der über die Formel hinausgeht: Gespräch mit allen über alles, nur nicht mit den Falschen.
War nicht weiter oben in dem FAZ-Text irgendetwas mit Brückenbauen angekündigt? Richtig, jetzt quält sich der Aufsatz auf das eigentliche Plateau. Über vier Brücken, erfahren wir, musst du gehen, um die Umbrüche beziehungsweise wenigstens diese Spiegelstrichprosa zu überstehen:
„Erstens: Brücken zwischen den Generationen – bei steigender Lebenserwartung, unterschiedlichsten Sozialisationen und Erwerbsbiographien ist das herausfordernd und anspruchsvoll. Themen wie Alterssicherung, Kitas, Zustand von Schulen sind Stichworte. Wir werden sie in unsere Antworten auf die Rentenkommission und in die Fortentwicklung unserer Familienpolitik aufnehmen.“
Stichworte in Antworten auf Kommissionen und in Fortentwicklungen aufnehmen. Das steht wirklich so da. Zu DDR-Zeiten gab es eine Funktionärssprachenparodie, die lautete: „Die Ursache der Rolle der Bedeutung ist entscheidend“. In Karrenbauers Text würde dieser Satz nicht unbedingt auffallen.
Wozu dienen Brücken zwei bis vier?
„Zweitens: Brücken bauen zwischen Stadt und Land: Das Verschwinden von Bäcker, Wirtshaus, Landarzt und Apotheke, Busverbindung, Poststelle und fehlendes Internet sind konkrete Themen – längst nicht nur vieler Dörfer im Osten, sondern mir zum Beispiel auch aus meiner saarländischen Heimat sehr bekannt. Die richtigen Fragen sind längst gestellt, die Konzepte sind entwickelt, jetzt muss im Regierungshandeln umgesetzt werden.“
Kurze Zwischenfrage: Welche Partei regiert eigentlich seit wann dieses Land an führender Stelle? Und wer bis vor Kurzem in ihrer saarländischen Heimat?
„Drittens: Brücken bauen zwischen denen, die viel mehr Tempo im Klimaschutz fordern, und denen, die das für übertrieben halten, Angst um ihre Arbeitsplätze haben oder Kosten befürchten, die sie nicht schultern könnten. Umbauen, umsteuern, innovativ sein, auch bewusster konsumieren – das eröffnet Lösungen und muss sich zu einem ganzheitlichen Konzept zusammenfügen.“
Unternehmen fragen sich nicht grundlos, wie lange sie die höchsten Strompreise in Europa in Kombination mit den zweithöchsten Steuern der EU noch stemmen können. Und wie zuverlässig der Strom künftig fließt ohne Kern- und Kohlekraftwerke.
Aber flott geht es zur nächsten und letzten Brücke:
„Viertens: Brücken bauen durch die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft: Wir haben über viele Jahre Rekorde bei Beschäftigung und Teilhabe erreicht. Aber wir spüren und die Fakten belegen es auch: Die Konjunktur schwächt sich ab, die Weltwirtschaft driftet auseinander. Die Nullzinspolitik bringt Sparer in Nöte. Und im Handwerk und Mittelstand fehlen Auszubildende. Hinzu kommen die Umbrüche durch Digitalisierung, Strukturwandel und Klimaschutz.“
Was möchte die Saarländerin noch, außer Brücken über programmatische Leerstellen und rhetorische Sümpfe zu bauen?
„Ich möchte, dass unser Land auch in 20 Jahren aus seiner wirtschaftlichen Stärke heraus soziale Sicherheit gewährleisten kann.“
Das kann Deutschland eigentlich schon jetzt nicht mehr. In der Mobilfunkabdeckung liegt das Land hinter Albanien, in dem internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftstest TIMSS rutschte die Nation von Liebig und Gauß binnen weniger Jahre von Platz 12 auf Rang 24 ab. In der Infrastruktur und auch sonst lebt Deutschland von der Substanz. Und von gut zwei Millionen Neumigranten aus überwiegend bildungsfernen Milieus ist, um es vorsichtig zu sagen, keine Verbesserung zu erwarten.
Ein bisschen Außenpolitik kommt in dem Landrätinnengrußwort auch noch vor:
„Ich möchte eine regelbasierte, freiheitliche Ordnung in der Welt, die das Miteinander ermöglicht und belohnt und nicht vom Gegeneinander autoritärer Hierarchien und von Einflusszonen geprägt ist.“
Eine Welt ohne Einflusszonen: hat sie darüber schon mit Donald Trump, Narendra Modi und Xi Jinping gesprochen? Was sagen die Herren so?
Zwischen Angela Merkel und Kramp-Karrenbauer existiert eine stille Vereinbarung. Die Kanzlerin äußert sich nicht zur Innenpolitik, für die sie sich spätestens seit 2015 sowieso kaum mehr interessiert. Und die Parteivorsitzende hält sich der Weltbühne weitgehend fern. Zur Vereinbarung gehört es offenbar auch, keine Kritik an der Kanzlerin zu üben. Das führt geradewegs zu dem Rätsel, warum Merkel den Parteivorsitz nicht einfach behalten hat. Nach dem FAZ-Text Karrenbauers stellt man sich diese Frage erst Recht.
Es gibt aber auch, anders als in dem Aufsatz, eine Antwort: irgendjemand muss die Wahlniederniederlagen verantworten und den Niedergang der Partei verwalten. Am besten mit therapeutischem Zuhören und Spiegelstrichpapier-Geraschel, das nicht weiter stört und auf Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ hinausläuft.
Vor allem brauchte Merkel dringend eine treue Parteiverweserin, die nach der nächsten Bundestagswahl vor die Mikrofone tritt und verkündet, dass sie der neuen Bundesregierung unter Robert Habeck alles Gute wünscht, und ihr eine faire Oppositionsarbeit anbietet.